Santiago López Petit im Interview

Übersetzung: Horst Rosenberger

„Eines der Hauptziele des Buches besteht darin, einen Beitrag zum Verlassen der Opferstellung zu leisten, die kranke Menschen quasi freiwillig einnehmen.”

„Feige sind weder diejenigen, die unentschlossen sind, noch die, die nicht wissen, ob sie den Kampf gegen die Ordnung fortführen sollen oder nicht... Feige sind diejenigen, die sich von vorneherein eine Rückzugsmöglichkeit offen halten.” Santiago López Petit: Horror vacui. La travesía de la noche del siglo (Die Durchquerung der Nacht des Jahrhunderts). Ed. Siglo XXI, Madrid, 1996, S.102.

Zuerst einmal Glückwunsch zu deinem neuen Buch. Ich möchte mich zunächst in seinem Umfeld bewegen: Der Titel ist eine Hommage an Antonin Artaud?

Artaud ist im ganzen Buch präsent, und wenn die Ehrerbietung für einen Autor nicht darin besteht, ihn ständig zu zitieren, sondern mit ihm und von ihm ausgehend zu denken, dann ist es richtig, dass Hijos de la noche eine Hommage an Artaud ist. Schon auf der ersten Seite greife ich einen Ausspruch von ihm auf, wenn ich erkläre, dass mich Stilfragen nicht interessieren: „Alles Geschriebene ist Schweinerei”. Wie er, will ich das Leiden in den Mittelpunkt rücken, es politisch durchdenken und in einer Weise ausdrücken, die den Leser verletzt, und natürlich auch mich selbst. Eine nach Wirksamkeit trachtende Schreibweise weiß, dass Grausamkeit die Grundlage jeder echten Erfahrung ist und muss dies berücksichtigen. Zur Vermeidung von Missverständnissen möchte ich noch hinzufügen: Das Leiden, von dem ich spreche, bezieht sich nicht auf ein wie auch immer geartetes metaphysisches Böses, sondern ist durch und durch materiell. Es handelt sich ganz einfach um die Unmöglichkeit zu leben. Lebenwollen und nicht können, denn diese Gesellschaft macht krank und tötet. Es hat also nichts mit dem Existentialismus und seiner Suizidrhetorik zu tun. Man muss nur wissen, dass sich in der heutigen Welt alle vierzig Sekunden ein Mensch umbringt, um zu begreifen, was ich meine. Ganz sicher ist das Leben das Problem, allerdings in einem politischen Sinne. Ohne Philosoph zu sein, war Artaud in der Lage, die Beziehung zwischen Leben und Tod mit einer ungewöhnlichen Radikalität zu durchdenken, weshalb er einer meiner wichtigsten Verbündeten bei dem Versuch ist, die politische Wahrheit aufzudecken, die in einem leidenden Körper steckt.

Ich möchte ein wenig über dich sprechen. Auf der Umschlagklappe ist zu lesen, dass du deine chemischen Forschungen eingestellt hattest, da es im Franquismus schwierig war, in einer Seifenblase zu leben. Darum hast du also die Chemie aufgegeben?

Ja, das ist richtig. Ich war schon als ganz junger Mensch von den Naturwissenschaften begeistert, ganz besonders von der Chemie. Mit vierzehn hatte ich bereits ein kleines Labor zu Hause, in dem ich zahlreiche Experimente durchführte. Bis es eines Tages zu einer heftigen Explosion kam, die die Nachbarn alarmierte. Zum Glück war nichts passiert und ich richtete mir ein besser ausgestattetes — wenn auch weiterhin sehr prekäres — Labor in einem Zimmer ein, das mir meine Großmutter in ihrer kleinen Wohnung in der Nähe der Rambles in Barcelona überlassen hatte. Ich könnte zahlreiche Anekdoten aus dieser Zeit erzählen, besonders, als ich an der Herstellung eines dem Tränengas vergleichbaren Produkts arbeitete und meine Oma den ganzen Nachmittag weinend in der Wohnung saß. Ich entdeckte schließlich eine neue analytische Methode zur Ortung von Wasser über ultraviolette Strahlen, die ich zusammen mit einem befreundeten Dozent veröffentlichte.

Mein ganzes Leben schien auf die Forschung ausgerichtet zu sein. Aber wie du bereits angedeutet hast, sah ich eines Tages, wie ein Meter vom Fenster des Labors entfernt, in dem ich damals arbeitete, berittene Polizisten hinter Studenten herjagten, worauf ich beschloss, mich dem Studentenkomitee, dem Koordinierungsausschuss und anderen Organen der Protestbewegung anzuschließen. Nach und nach merkte ich, dass mir die Luft im Labor zu dünn wurde. Am 3. April 1973 brachte die Guardia Civil einen Arbeiter um, der auf der Baustelle des zukünftigen Wärmekraftwerks im Stadtteil Besós gearbeitet hatte². Ich erinnere mich, dass wir loszogen, um die umliegenden Baustellen mit dem Ruf lahmzulegen: „Die haben einen Arbeiter umgebracht”. Ein Polizeiwagen fuhr direkt auf unseren kleinen Streikposten zu, um uns zu überfahren. Der Wagen wurde mit einem Steinregen eingedeckt, der die Windschutzscheibe zertrümmerte, und er fuhr schließlich gegen einen Baum. Ich schlug mich querfeldein in die Flucht - und damit war der Weg zurück ins Labor für mich versperrt.

Der von mir in Hijos de la noche verwendete Begriff Anomalie liefert eine einfache Erklärung dafür, was mit mir passiert war. Die Flucht machte aus mir eine Anomalie. Denn eine Anomalie ist jemand, der flieht, aber auf der Flucht zu einer Waffe greift. Natürlich arbeitete ich in der Folge weiterhin als Chemiker in verschiedenen Fabriken, aber nur um meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Das letzte Unternehmen, eine wichtige Glasfabrik mit mehr als 150 Arbeitern, machte Konkurs und wir konnten es kollektivieren. Während ich in dieser Genossenschaft arbeitete, fing ich mit 30 Jahren an, Philosophie zu studieren, um zu verstehen, was passiert war, das heißt, warum wir verloren hatten. Ich muss hinzufügen, dass die Philosophie mich schon immer begleitet hatte. Oft schleppte ich Hegels Wissenschaft der Logik in meiner Schultertasche mit mir herum. Ich erinnere mich daran, dass das Buch schwer in der Tasche wog und dass es mich faszinierte, obwohl ich Schwierigkeiten hatte, es zu verstehen.

Wenn ich mich nicht täusche, hast du dich später nicht mit Bereichen beschäftigt, die mit der Wissenschaftstheorie zu tun haben. Hast du denn kein besonderes Interesse an diesen Themen?

Meine Magisterarbeit im Fachbereich Philosophie trug den Titel „Leben und Thermodynamik” und war eine philosophische Auslegung des Werks von Ilya Prigogine. Ich wollte den mathematischen Apparat der Thermodynamik der irreversiblen Prozesse untersuchen, um daraus Begriffe „abzuleiten”, die nützlich für die Philosophie nützlich sein könnten. Beispielsweise das Verhältnis Ordnung/Unordnung, die Funktion der Differenz oder die Multiplizität der Zeit. Danach wollte ich eben diese Annäherung auch auf den naturwissenschaftlichen Diskurs anlegen, in diesem Fall allerdings mit Schwerpunkt auf die Teilchenphysik. Ich hatte meine Diplomarbeit in Chemie über Quantenmechanik geschrieben, weshalb ich gewisse Vorkenntnisse mitbrachte. Dann war ich jedoch nicht imstande, in das Teilgebiet der Mathematik einzudringen, das in diesem Zweig der theoretischen Physik erforderlich ist. Außerdem war ich mir gar nicht mehr sicher, ob ich mich wirklich mit dieser Thematik beschäftigen wollte. Ich hatte Philosophie studiert, um über das Leben nachzudenken, um das Leben politisch zu überdenken. Deshalb richtete ich meine Doktorarbeit schließlich auf eine Thematik aus, die mir unter den Nägeln brannte. Entre el ser y el poder: la vida, una apuesta prevaricante (Zwischen Sein und Macht: das Leben, eine „veruntreuende” Wette) titulierte ich letztendlich meine Doktorarbeit, in der ich den Übergang von der Fabrikgesellschaft zur Metropole entwickele und eine Art von provisorischer Moral ausarbeite: Es handelt sich um eine Wette, die ihr eigenes Wesen hintergeht: die Hoffnung. Im besagten Text war das „Zwischen”, das Macht und Sein trennt und eint, das Lebenwollen. Durch die Einführung dieser Begrifflichkeit hörte das Leben auf, eine reine Frage zu sein, und wurde zu einem Problem. Ich war mir damals jedoch noch nicht über die Tragweite dieser Veränderung bewusst.

Es ist auch von deiner Unterstützung der autonomen Arbeiterbewegung die Rede. Was für eine Bewegung war das und wie warst Du mit ihr verbunden?

Als autonome Arbeiterbewegung, oder auch in Anlehnung an Karl Heinz Roth als die andere Arbeiterbewegung, wird ein Teil der Arbeiterbewegung bezeichnet, der sich durch Praktiken des antikapitalistischen Kampfs auszeichnete, die auf der Selbstorganisation basierten (direkte Demokratie, in Vollversammlungen gewählte und jederzeit wieder abrufbare Delegierte...). Diese andere Arbeiterbewegung entwickelte sich sowohl in den Fabriken als auch in den Schulen und Stadtteilen. Sie entstand zwar mitten in der Diktatur, erreichte aber ihre größte Kraft zwischen 1970 und 1977. Die autonomen Kämpfe fanden meisten am Rand der (damals noch verbotenen) Parteien und Gewerkschaften statt. Es handelte sich natürlich um antifranquistische Kämpfe, die jedoch eine starke antikapitalistische Komponente besaßen, denn sie gingen über die repräsentative Demokratie hinaus. Sie begnügten sich also nicht mit der Logik des Sozialpakts, die zur Grundlage der späteren postfranquistischen Transition werden sollte, und passten sich nicht an diese an.

Ich möchte etwas ausführlicher auf die Frage eingehen. Die Forderungen der autonomen Kämpfe waren die damals üblichen: Kampf gegen die Arbeitshetze, für Lohnerhöhungen, gegen Entlassungen... Es waren also keine antikapitalistischen Abstraktionen. Aber durch die Art und Weise, in der diese auf Selbstorganisation fußenden Vorschläge verteidigt wurden, entstanden Formen von Gegenmacht und eine massenhafte Illegalität, die sofort zerstört werden mussten. So geschehen 1976 mit der Ermordung von streikenden Arbeitern in Vitoria oder bei der monatelangen Bestreikung der Fabrik Roca in Gavà, die das Ende dieses Kampfzyklus markierte. Diese andere Arbeiterbewegung war selbstverständlich nicht auf den spanischen Staat beschränkt, sondern Teil eines sehr viel breiteren Kampfzyklus: Mai 68 in Frankreich, 1969 bis 77 in Italien usw. Es sind unterschiedliche Momente eines die Kapitalakkumulation erodierenden Kampfzyklus. Der Neoliberalismus ist letzten Endes lediglich der Höhepunkt des Angriffes auf die Arbeiterklasse, die Protagonistin dieses Zyklus.

Du fragst, inwieweit ich in diese Kämpfe verwickelt war? Ganz und gar. Von der Abfassung zusammen mit José Antonio Díaz des Buches Crítica de la izquierda autoritaria en Catalunya, 1967-1974 (Kritik der autoritären Linken in Katalonien,1967-1974”, das bei Ruedo Ibérico (Paris) erschien und die reale Funktionsweise der Organisationsform Partei analysiert und aufzeigt, bis zum Aufbau einer geheimen Druckerei, in der wir Texte des heterodoxen Marxismus publizierten (R. Luxemburg, K. Korsch, C. Lefort, C. Castoriadis...). Es würde viel Zeit in Anspruch nehmen, dieses Engagement im Einzelnen zu erklären. Als die CNT wieder aufgebaut wurde, trat ihr ein Teil der autonomen Bewegung bei, da wir dachten, dass sie dazu dienen könnte, die Formen der Selbstorganisation zu verteidigen und die Krise des Kapitals zu vertiefen. Ich wurde, wie andere, als marxistischer Abweichler ausgeschlossen. Mit dieser Begrifflichkeit. Das war sehr traurig und affig. Die Orthodoxie setzte sich durch. Andere Genossen gründeten in der Folge die - heute stärkste — anarchosyndikalistische Gewerkschaft CGT. Ich war dagegen zur Schlussfolgerung gelangt, dass die Fabrik ihre zentrale Rolle eingebüßt hatte und dass alles neu überdacht werden musste. Viele Jahre später veröffentlichten wir mit Espai en blanc (Offen gelassener Raum) das Buch Luchas autónomas en los setenta (Autonome Kämpfe in den Siebzigern, Madrid 2008), ein digitales Archiv der Arbeiterautonomie und einen Dokumentarfilm zum Thema.

Auf der Umschlagklappe ist ebenfalls zu lesen, dass du dich damit begnügt hast, an der Universität Barcelona zeitgenössische Philosophie zu lehren. Nicht schlecht! Was waren die positivsten Momente dieser Erfahrung?

Zwanzig Jahre lang an der Universität zu unterrichten, hat mir sehr viel gebracht. Am Anfang unterrichtete ich zeitgenössische Philosophie und auch einige Wahlfächer. Im Lauf der Jahre konnte ich mich dann fast ausschließlich auf diese Wahlfächer konzentrieren, die mir dazu dienten, mein eigenes Denken auf den Prüfstand zu stellen. Autoren der italienischen Arbeiterautonomie (Panzieri, Tronti, Negri...), Deleuze, Foucault, wie auch die Situationisten, Artaud, Lautréamont... bildeten ein ganz besonderes Gemisch. All dies gekreuzt mit Verweisen auf die griechischen Philosophen, aber auch auf Carl Schmidt.

Es war wirklich so, dass der Unterricht für mich ein Labor war, in dem ich selbst am meisten lernte: von den Studierenden, ihren Fragen und ihrem Schweigen. Der Unterricht war ein Ort der Exposition im weitesten Sinn des Wortes. Jeden Tag musste ich mich aussetzen und an die Grenze des Nichtwissens gelangen. Spüren, dass sich etwas ereignet hatte, bedeutete, dass gerade ein Gefühl von Gefahr über den Hörsaal geschwebt war.

Einmal sagte ich, dass es kein Denken ohne dieses Gefühl gibt, denn das Denken muss mit dem Leben verknüpft sein, und dieses ist unvorhersehbar und unkontrollierbar. Dunkel. Ich erklärte in diesem Zusammenhang, ich würde den Tisch zertrümmern, wenn ich nur eine Axt hätte. Am nächsten Tag lag ein Riesenpaket mit einer Axt und einer kurzen Notiz auf dem Tisch: „Dann fang mal an.” Ich griff zur Axt und hieb sie mit aller Kraft in den Tisch. Die Unterrichtstunden waren manchmal Versammlungen. Ab und zu verirrten wir uns in Diskussionen, in denen wir nicht in der Lage waren, eine einzige Idee wirklich zu begreifen. Und dann gab es wieder Momente, wo wir Philosophie schufen. Oder wir bauten uns vor der Polizei auf, um ihr den Weg zu versperren. Ein Student fragte mich grinsend: „Ist das jetzt eine praktische Unterrichtseinheit?”

In dem Maße, in dem mich die chronische Erschöpfung in Beschlag nahm, wurde dieses Sich-aussetzen jedoch immer gefährlicher, und am Ende von zwei Unterrichtstunden spürte ich, wie die Einsamkeit zunahm. Man bringt nicht jede Woche einen Unterricht zustande, der einem Schrei, einem Zwischending zwischen der radikalen Geste und der Gestikulierung, gleicht.

Die Korridore der Uni wurden immer grauer. Der so genannte Bologna-Prozess beschleunigte eine Dynamik, die schon einige Jahre zuvor begonnen hatte. Ständiger Prüfungsdruck, Anwesenheitslisten führen, ein Paper nach dem anderen schreiben... Die wissbegierigen Augen der Studenten wurden pragmatischer, denn ihnen war vollkommen klar, was sich vor ihnen abspielte. Jetzt will ich aber deine Frage ganz konkret beantworten. Die Surrealisten machten eine Umfrage, in der sie mehrere Schriftsteller fragten, warum diese schrieben. Eine der Antworten würde ich mir gern zu eigen machen: „Ich schreibe, um Freunde zu gewinnen.” Ja, an der Universität zu unterrichten, war für mich die Möglichkeit, Freunde zu gewinnen.

Darüber hinaus hast du zahlreiche Initiativen mit initiiert, unter anderem: Dinero Gratis (Geld umsonst), Espai en blanc. Was hatte es denn mit diesem Geld umsonst auf sich?

Denjenigen, die wir aus der autonomen Arbeiterbewegung kamen, war schon immer vollkommen klar gewesen, dass die Kritik der Arbeit eine Schlüsselrolle spielte. Von daher auch die Verteidigung von Sabotage oder Krankfeiern, was natürlich für die klassischen gewerkschaftlichen Vorstellungen ein Affront war. Diese Kritik muss jedoch immer dem historischen Kontext entsprechen. Mit der Durchsetzung der Wirtschaftskrise als politischer Operation verallgemeinert sich die existentielle Präkarisierung und mit dieser dehnt sich die Angst aus. Unter diesen neuen Bedingungen kannst du zwar dein ganzes Leben lang wiederholen, dass sich das [spanische] Wort [für] aus dem lateinischen Begriff für ein Folterinstrument ableitet, oder die Aufhebung der Lohnarbeit proklamieren, was aber nicht viel bringt. Die Kritik der Lohnarbeit muss neu formuliert werden, um in der Lage zu sein, die Frage des Geldes in den Mittelpunkt zu stellen, oder, was aufs Gleiche hinausläuft, um Arbeit und Einkommen voneinander zu trennen. Deshalb gehörten wir zu den Ersten, die ein garantiertes Einkommen bzw. ein bedingungsloses Grundeinkommen forderten. Dies implizierte von Geld zu sprechen, was die so genannte Linke obszön fand.

Mit einer Gruppe von Freunden und Freundinnen beschlossen wir, einen Schritt weiterzugehen, und dachten uns die Initiative „Geld Umsonst” aus, womit wir den oben genannten Ansatz nicht negierten, sondern mit Formen der direkten Aktion vervollständigten. Wenn der Code, der das ökonomische Subsystem - und darüber unsere gesamte Existenz - bestimmt in der Dichotomie besteht „Geld haben / kein Geld haben”, dann zwingt sich die Frage auf, wie diese angegriffen werden kann? „Geld Umsonst” ist eine mögliche Antwort darauf. Für uns wirkte dieser merkwürdige Ausdruck gegenüber der Realität und dem von ihr aufoktroyierten „gesunden Menschenverstand”, wie das Wort „Dada” gegenüber der Institution Kunst. Eines der wichtigsten Kunstmuseen von Barcelona finanzierte die Kampagne, und alles nahm sich wie ein Witz aus, bis klar wurde, dass wir uns mit dem Ausdruck „Geld Umsonst” auf eine nicht akkumulierbare lebendige Währung bezogen, die wir uns kollektiv gaben: über Enteignungsaktionen in Supermärkten und Buchladenketten, die Anfertigung von T-Shirts und anderen Gadgets mit dem Aufdruck „Geld Umsonst” usw. Der [in Spanien] erfolgreiche Kinofilm El taxista ful (Der falsche Taxifahrer)) griff einige dieser Interventionen auf. Wir täuschten uns jedoch in der Annahme, dass eine radikale Geste als solche, und ohne einen geeigneten gesellschaftlichen Kontext, sich einfach so vervielfältigen würde. Der subversive Charakter der Geste hätte auf eine sehr viel komplexere Weise entfaltet werden müssen. Der Ausgangspunkt ist jedoch weiterhin die unschuldige Frage: „Papa, wenn du Geld willst, warum forderst du dann eine Arbeitsstelle?”

Und Espai en Blanc? Ist dieser offen gelassene Raum noch am Leben?

Ja, selbstverständlich. Espai en Blanc (http://www.espaienblanc.net) ist der Name eines Projekts, das 2002 in Barcelona entstand. Meine Lebensgefährtin Marina Garcés und ich stellten fest, dass der damalige frenetische politische Aktivismus die Schaffung von Räumen des Nachdenkens verunmöglichte, da wir ständig damit beschäftigt waren, auf die Angriffe der Machtorgane, vor allem der lokalen, zu reagieren. Dieser Schritt beinhaltete keinen Verzicht auf die Verteidigung der Bewegung der Hausbesetzungen — tatsächlich wurde Espai en Blanc vor mehr als 300 Menschen in einem besetzten Haus in Gracia mit einer Art Party präsentiert -, sondern wir beabsichtigten damit, Kritik und Experimentieren auf eine so anspruchsvolle Weise wie möglich miteinander zu verbinden. Über Jahre hinweg war Marina die Schlüsselfigur. Es gelang ihr, ein Projekt zu fördern und aufrechtzuerhalten, das schon seinem Namen nach offen war und in dem keine Form von Willkür Platz hatte.

Unser Ziel war, wie wir damals ausdrückten, „das Denken wieder mit Begeisterung zu füllen.” Dies hieß für uns Denken unter drei Voraussetzungen zu verstehen: Erstens: Als eine Tätigkeit, in der wir alles in Frage stellen. Zweitens, ein Denken, das gemeinsam erzeugt wird, das aus unserem Zwischeneinander geboren wird. Und das uns betrifft, da es keine Gleichgültigkeit zulässt. Und drittens - ein Denken, das als Herausforderung entsteht. Die erzeugten Begriffe — das Denken also — müssen die Realität angreifen, die Offensichtlichkeit durchlöchern, die die Realität verdeckt und beschützt. Mit diesem Ziel haben wir in mehr als zehn Jahren eine ganze Reihe von Aktivitäten und Interventionen gemacht: Tagungen, Manifeste, Filme, eine Zeitschrift...

Zu einem bestimmten Zeitpunkt kamen eine Reihe von Veränderungen zum Tragen, die uns zu einer Reaktion zwangen. Einerseits lief unsere politisch-kulturelle Intervention Gefahr, Teil des Spektakels zu werden. Die Wiederholung von Veranstaltungen (wie zum Beispiel die offenen Treffen) wirkten banalisierend. Andererseits war es problematisch, einfach weiterzumachen, als wäre nichts geschehen, denn die so genannte „Krise” verschärfte zusehends die Lebensbedingungen der Menschen. Wir stellten an uns selbst fest, dass ungesicherte Lebensverhältnisse nicht mehr ein gewisser Hebel zur Befreiung von der Arbeit waren, sondern sich in einen Fluch verwandelt hatten. „Die Krise” offenbarte sich nach und nach als Ruf zur Ordnung, als Augenblick der Wahrheit. Plötzlich wurde der Raum und die Funktion von Espai en Blanc ausgesprochen problematisch. Das Kuriose ist jedoch, dass diese Orientierungslosigkeit, dieses „nicht wissen wohin” genau dann eintrat, als viele der Ideen, die wir vorweggenommen hatten, verwirklicht wurden.

Der 15M ³, die Bewegung der Empörten, gab all dem praktische Gestalt, von dem wir geträumt hatten und über das wir Theorien entwickelt hatten (Kraft der Anonymität, Politisierung des Unbehagens, das Wort ergreifen...). Zum Glück ging die Bewegung der Platzbesetzungen weit über uns hinaus, sie riss uns mit und zerschlug alte Gewissheiten. Paradoxerweise konstatierten wir jedoch gleichzeitig eine gewisse Schwächung des kritischen Denkens, das vor allem der Dringlichkeit von Antworten zuzuschreiben war, als auch zwei leicht zu identifizierenden Ursachen: dem Aktivismus und der Kolonisierung durch den Expertendiskurs. An dieser Stelle wurde uns klar, dass die Einmischung in das, was wir den Kampf des Denkens genannt hatten, die einzige Aufgabe war, die Espai en Blanc noch erfüllen konnte. Auf gewisse Weise kehrten wir somit zu unserem ursprünglichen Ziel zurück, allerdings in einer vollkommen anderen sozialen, ökonomischen und wirtschaftlichen Lage.

Die Zeitschrift wurde unzulänglich, als die Geschichte einen Gang zulegte. Anders ausgedrückt: die Realität schien in Konjunkturen aufzubrechen, die genutzt werden mussten. Deshalb unterbrachen wir vorläufig die Veröffentlichung der Zeitschrift und versuchten, eine sich auf der Höhe der Zeit befindliche „agitatorische Flugschrift” zu schaffen, die aus einem einzigen Blatt besteht. In diesem Zusammenhang stellte sich uns eine ganze Reihe von Fragen: Ist die politische Agitation reine Gegeninformation? An wen wenden wir uns? Welchen Wert besitzt das Wort? Wie sollen Text und Bild in Beziehung gesetzt werden? Welchen Status hat die Kritik, wenn man im Wanst der Bestie lebt? Diese mit dem Namen Pressentiment (Vorahnung) (http://elpressentiment.net) betitelten DIN A4 großen Flugblätter sind nach und nach zu einer praktischen Art und Weise geworden, einen politischen Standort im Inneren einer Realität aufzubauen, die eins mit dem Kapitalismus geworden ist.

In deinem Buch schreibst du, dass du all die Jahre im Grunde nur über die Bedeutung der Verbverbindung „leben wollen” nachgedacht hast. Kannst du die Frage heute beantworten?

Das erste Mal, als ich mir die Frage nach dem „Lebenwollen” stellte, tat ich dies von einem politischen Horizont aus, der sich durch die Krise der Arbeiterklasse als politisches Subjekt aufgetan hatte. In dem Maße, in dem der Zerfall der Arbeiterklasse voranschritt, schien es notwendig „das Soziale” neu von Kategorien aus zu durchdenken, die den Rahmen der bekannten Dualitäten aktiv/passiv, Subjekt/Objekt usw. sprengten. Hinter „dem Sozialen” lag tatsächlich das Lebenwollen, das in mehrdeutigen gesellschaftlichen Figuren Gestalt annahm, die nicht mit dem Begriff Antagonismus zu fassen waren: Individualisten, Delinquenten, Ausländer oder Randständige. Diese soziologische Annäherung an das Lebenwollen kam mir jedoch bald unzulänglich vor. Einerseits sah ich von einer strikt politischen Problemstellung mit einem Willen zur gesellschaftlichen Veränderung aus keine Möglichkeit, wie diese Ambivalenz des Sozialen überdeterminiert werden konnte, um sie gegen sich selbst zu wenden. Andererseits wurde es für mich aufgrund der Krankheit auch dringend notwendig, dem Lebenwollen eine existentielle Dimension zu verleihen.

Die Philosophie öffnete mir einen Weg aus dieser Sackgasse und eine Antwort auf beide Anforderungen. Die philosophische Operation, die ich mir vornahm, bestand darin, den Schritt vom Leben zum Lebenwollen zu vollziehen. Das Leben existiert nicht, was existiert, ist das Lebenwollen. Kurz und gut, das Lebenwollen bringt das/die Leben hervor, das/die wir leben, so wie das Zählen die Zahlen erzeugt. Ich lasse an dieser Stelle die Konsequenzen dieser Verschiebung sowie seine Schwierigkeiten beiseite, da das Leben ja zurückkehrt und sich rächt. Belassen wir es an dieser Stelle mit dem Satz: „Wenn das Leben ein Wort ist, dann ist das Lebenwollen ein Schrei”.

Mein Ziel hat darin bestanden, das Lebenwollen in einen Schrei, in eine Herausforderung zu verwandeln. Deshalb sage ich am Ende von Hijos de la noche, dass alles, was ich in all diesen Jahren beabsichtigt habe, letztendlich darin bestanden hat, über die Wesensgleichheit zwischen Lebenwollen=Herausforderung nachzudenken. Am Anfang drehte sich dieses Denken um die Trias Sein-Macht-Nichts, danach um das Endlose und das Nichts, und schließlich um meinen eigenen Körper. Das Leben hat mich dazu gezwungen, über das Lebenwollen nachzudenken, und es ist eben diese Notwendigkeit, die das Lebenwollen zu meinem einzigen Gedanken macht.

2013 bist du vorzeitig in den Ruhestand getreten. Warum? Wozu?

Warum, das habe ich bereits erzählt und ist einfach zu erklären. Aber wozu ist komplizierter und noch offen. An meinem letzten Unterrichtstag platzte plötzlich eine Gruppe von Studenten und Freunden in den Hörsaal und fing an Fragmente aus meinen Texten zu rezitieren. Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet. Als wir den Raum verließen, besprühten sie die Wand des Gangs mit dem Spruch „Die Wunde verheilt nicht”, und wir gingen zusammen aus der Uni. Mir gefällt die Vorstellung, dass das Verlassen der Universität die Flucht fortsetzt, die ich vor nun schon so vielen Jahren unternommen habe. Erneut fliehe ich und beschaffe mir gleichzeitig eine Waffe. Die Waffe, die ich dieses Mal fabriziert habe, nennt sich Hijos de la noche. Es ist ein komplexes und einfaches Buch zugleich. Komplex, weil sich viele verschiedene Ebenen überkreuzen (eine biographische, historische, philosophische...) und sehr einfach, weil es der Schrei eines leidenden Körpers ist. Eine bis aufs Äußerste persönliche Stimme, die gegenüber allen offen ist, die an ihr teilhaben möchten. Hijos de la noche ist eine Allianz von Freunden, um die Nacht zu durchqueren, um von der Nacht des Unbehagens in die des Widerstands zu gelangen.

Wer sind die beiden Kinder, die auf der Fotografie der inneren Umschlagklappe zu sehen sind? Wo wurde diese Aufnahme gemacht?

Das sind Ícar und Amanda, meine beiden siebenjährigen Kinder. Ich bin erst sehr spät Vater geworden. Da mehrere Seiten des Buches ausgehend von Beobachtungen von ihnen geschrieben wurden, und vor allem aber, weil sie meine kleinen Verbündeten bei dieser Durchquerung waren, wollte ich, dass sie auf gewisse Weise auch als Koautoren präsent sind. Die Aufnahme zeigt den Strand Famara auf Lanzarote. Das Meer, und konkret dieser Strand, spielen eine wichtige Rolle im Buch.

Zum Buch selbst. Ich bitte dich um einen Kommentar zu einer Reihe von Aphorismen und Textstellen, die ich ausgewählt habe. Mehr oder weniger ein Zitat pro Kapitel. Bist du damit einverstanden?

Ja, gern.

Aus dem Vorwort: „Ich habe dieses Buch aus zwei Gründen geschrieben. Aus der Notwendigkeit, das zu erklären, was für mich weiterhin unerklärlich ist. Und weil ich ahne, dass das, was mir passiert, sich nicht wesentlich davon unterscheidet, was vielen anderen Menschen widerfährt. Wir stehen an einer historischen Weggabelung. Die erniedrigte Natur rächt sich. Der Parteienstaat versinkt überall in seinem eigenen Sumpf. Die Welt geht zu Ende.”

In den acht Jahren, in denen ich an dem Buch geschrieben habe, musste ich ständig gegen mich selbst kämpfen. Gegen die Wirkungen einer Krankheit, die meine Fähigkeit zum Lesen und Schreiben immer stärker unterminierte. Gegen die Zweifel, die mich immer wieder beschlichen: Wie kann ein philosophisches Buch geschaffen werden, das mit einem so persönlichen Statement beginnt: „Ich habe beschlossen darüber zu schreiben, was mit meinem Kopf passiert.”? Gegen eine Gesellschaft, die dich ständig daran erinnert, dass es unangebracht und unzeitgemäß ist, über Leiden oder Krankheit zu sprechen; ganz zu Schweigen von der Absicht, die eigene Krankheit zu politisieren. Diese Widerstände überschnitten sich mit solchen, die aus einer ganz anderen Ecke kamen. Von denjenigen, die mir - mit den besten Absichten und dem Wunsch mir zu helfen — rieten, mich von einem Buch fernzuhalten, dessen Abfassung nur dazu dienen würde, mich noch tiefer in der Nacht zu versenken.

Ist es nachvollziehbar, wenn ich sage, dass ich ab einem bestimmten Zeitpunkt begriff, dass ich mit diesem Buch alles aufs Spiel setzte? Das Buch basiert auf einer Hypothese, die sich letztendlich bestätigt hat: Meine eigene Diagnose ist gleichzeitig die Diagnose einer Epoche, das heißt, die Erschöpfung, die mir so stark zusetzt, dass sie mir das Leben verunmöglicht, ist die Erschöpfung einer durch ihre Ausbeutung ausgelaugten Welt. Ich spreche von einer Wegscheide in Bezug auf dieses entfesselte Kapital, das sogar den Krisenbegriff in die Krise gestürzt hat. Diese Überlegung wird im Buch wieder aufgegriffen, allerdings von einer vollkommen persönlichen Perspektive aus. Ich stelle mir mit aller Radikalität die Frage: Wie sieht meine Nacht aus? Und ich würde mir wünschen, dass die Leserschaft sie sich ebenfalls stellt. Die Frage zu beantworten, heißt einfach, sich zu trauen, diese Unmöglichkeit zu Leben zu inkarnieren, die ich — medizinisch ausgedrückt - als Krankheiten der Normalität bezeichnet werden könnte. Auf diese Weise liegt diese Weggabelung nicht mehr außerhalb, geschützt durch eine falsche Objektivität, sondern verlagert sich ins Innere von einem selbst.

Aus dem ersten Kapitel: Die Krankheit. „Das Leben erscheint mir nur vom Stolz des Krankseins aus lebenswert zu sein. Ich werde den Preis für den Frieden nicht zahlen, ich verhehle jedoch auch nicht, wie unerträglich Krankheit sein kann. Ich werde mich nicht beugen und werde auf dem schwarzen Ross der Krankheit die Nacht durchreiten.”

Ich habe eine Sekretärin einer Universitätsabteilung kennen gelernt, die wegen einer starken Depression krankgeschrieben werden musste und sich weinend dafür entschuldigte, dass es nicht ihre Schuld sei, dass sie ja arbeiten wolle, aber der Arzt ihr versichert habe, dass es ihrem Gehirn an Serotonin mangele. Ich habe auch die Kassiererin eines Supermarkts miterlebt, die keine Kraft mehr hatte, das Barcodelesegerät über die Produkte zu führen, ihre Tränen runterschluckte und erklärte, dass sie weiterarbeiten müsse, da sie sonst entlassen werden würde.

Wir alle kennen ähnliche Beispiele. Die Macht in Form der therapeutischen Macht gibt dem Kranken die Schuld und entpolitisiert die Krankheit. Eines der Hauptziele des Buches besteht darin, einen Beitrag zum Verlassen der Opferstellung zu leisten, die kranke Menschen quasi freiwillig einnehmen.

Den Blick der therapeutischen Macht zu kontern und deaktivieren, verlangt eine zweifache Restitution: Die Restitution des Leidens und die des Stolzes. Ich weiß, dass dies schwer zu verstehen ist, denn der größte Wunsch eines jeden kranken Menschen ist, wieder gesund zu werden. Ich behaupte jedoch, dass diese doppelte Enteignung in Wirklichkeit jede Heilung verhindert. Das Ganze ist jedoch im Grunde noch komplizierter: Was heißt denn gesund werden? Die nicht von der Hand zu weisende bohrende Frage „Wer ist in dieser Gesellschaft nicht krank?” stellt auch das Verhältnis zwischen Krankheit und Gesundheit in Frage. Hijos de la noche spricht von Krankheit, von meiner Krankheit, auch wenn das davon sprechende Ich die unwichtigste Rolle dabei spielt. Mein Ziel ist, ausgehend von einer vollkommen persönlichen Erfahrung eine kollektive Stimme zu erheben. Die autobiographische Erzählung, mit der das Buch beginnt, erfüllt mithin nur zwei Funktionen. An erster Stelle soll ihre Struktur verhindern, dass die Leserschaft einen dem neutralen Zuschauer eigenen Standort der Äußerlichkeit einnimmt. An zweiter Stelle stellt die persönliche Erzählung als solche den Zugang zur Nacht des Unbehagens dar. Die Nacht des Unbehagens hat nichts zu tun mit der romantischen oder mystischen Nacht. Die Nacht des Unbehagens [malestar] ist die Nacht eines Un-Behagens [mal-estar], das endlos ist. Eben aus dem Grund, weil die Nacht der Verzweiflung einen „mitnimmt”, gibt es keine andere Möglichkeit als sie zu durchqueren. Die therapeutische Macht drängt zu einem Pakt mit dem Leben. Die Politisierung der Krankheit drängt zur Politisierung des Lebens.

Aus dem zweiten Kapitel: Die Nacht des Unbehagens. „Heutzutage bestimmt die Sphäre der Produktion den täglichen Zeittakt und teilt den Raum auf; kurzum, sie organisiert das tägliche Leben. Man kann sagen, dass der Begriff des Alltagslebens erst gegen 1925 geprägt wurde, oder was dasselbe ist, dass das Alltagsleben erst seit damals eine relevante intellektuelle Frage ist.”

Alltagsleben hat es natürlich schon immer gegeben. Der Begriff Alltagsleben taucht jedoch zuerst Anfang des letzten Jahrhunderts als Kritik desselben auf. Aus diesem Grund handelt es sich um einen Begriff, der von Anfang an politisch besetzt ist. Von der konservativen Kritik eines Heideggers, dass das Alltägliche die Entscheidung im Unpersönlichen annulliere und uns davon befreie, sie zu treffen, bis zu Lukacs, der mit seinem Begriff der Verdinglichung den Wirkungsmechanismus des Alltäglichen zerlegt. Die Situationisten sind jedoch diejenigen, die in Anlehnung an Lefebvre und die Surrealisten die politischen Schlussfolgerungen der Kritik des Alltagslebens am besten formulieren. Die Revolution ist keine wirkliche Revolution, wenn sie nicht in der Lage ist, das Leben zu ändern. Von diesem Ansatz aus stellt sich für uns eindeutig nur die Alternative: „leben oder überleben”, „Leben oder Ware”.

In meinem Buch versuche ich diese Argumentation weiterzuführen, um sie an einen Rahmen anzupassen, in dem die Ausbeutung die Form einer globalen Mobilisierung angenommen hat und sich als solche ausbreitet. Die Kritik des Alltagslebens verwandelt sich somit in Kritik des Lebens.

Diese Inbeschlagnahme durch die globale Mobilisierung hat sich auf das ganze Leben ausgedehnt und beschränkt sich nicht mehr auf die Arbeitszeit. Darin besteht die fundamentale Änderung des Statuts des Lebens. Das Leben ist unser Gefängnis, wir leben im Wanst der Bestie und ernähren sie. Wenn das Leben ein Gefängnis ist und wir keine Luft bekommen, ist es dann verwunderlich krank zu sein? Die Überlegungen, die ich in meinem Buch Amar y pensar (Lieben und Denken) in Bezug auf den Hass aufs Leben anstellte, zielen genau auf diesen Punkt ab. Wie willst du dein Leben ändern, wenn du es nicht hasst?

Aus dem dritten: Krankheit und Philosophie. „Krankheit ist auch heute noch eine „gefährliche Andersheit”. Die Abnormität ist heute zu einer Anomalie geworden. Nur eine Politisierung der Krankheit, die deren existentielle Dimension zurückgewinnt, kann sich auf der Höhe dieser Verschiebung bewegen.”

Über das soziale Unbehagen lässt sich anhand von statistischem Material sprechen. Man kann anführen, dass es in Spanien täglich zehn Selbstmorde gibt. Man kann auch auf den Einfluss der Krise bei diesen Todesfällen hinweisen, was bis vor kurzem noch abgestritten wurde. Ich glaube jedoch, dass wir das eigene Un-behagen wahrnehmen müssen, um das soziale Unbehagen wirklich politisieren zu können. Dann wird das soziale Unbehagen nämlich zu einem Un-Behagen, das letzten Endes ein Un-Behagen mit sich selbst ist.

In Hijos de la noche habe ich versucht, diese Prämisse so weit wie möglich zu führen und sie in eine Wahrheitsbedingung zu verwandeln. Den Begriff der Anomalie in dieser Problemstellung einzuführen, war sehr sachdienlich, denn dadurch konnte ich direkt die wesentliche Frage angehen. Sich selbst als Anomalie zu begreifen, heißt die Probe der Erschöpfung durchzumachen, also die Unmöglichkeit zu leben aufgrund der Tatsache zu konstatieren, nicht in diese Realität hineinzupassen oder genauer gesagt, nicht in sie hineinpassen zu wollen. Die Anomalie, die die Krankheit des Lebenwollens ausdrückt, stellt keine reine Funktionsstörung dar, die wieder zu beheben wäre, sondern sie ist eine andere Dimension von Leben, die das LEBEN herausfordert.

Deshalb erscheint die Anomalie gleichzeitig als Schatten und Not, als Kritik der Metaphysik und der globalen Mobilisierung. Wohlgemerkt, jede Anomalie ist eine Schmerzkraft just deshalb, weil sie eine Mobilisierungseinheit ist, die zerbricht und entwischt. Sich als Anomalie zu begreifen, bedeutet somit den Ort des Opfers zu verlassen und sich diese Schmerzkraft zu eigen zu machen. Ich denke nach diesen Ausführungen wird ersichtlich, warum sich der Begriff Anomalie von Foucaults Begriff der Abnormität unterscheidet. Trotz einiger Zweifel stellte die Trias Kranker-Verrückter-Genie immer einen unterirdischen Faden für Foucault dar. Diese Annäherung an die „gefährliche Andersheit” bei Foucault muss natürlich mit dem Verweis auf die mit ihrer Unterwerfung beauftragten Disziplinarinstitutionen ergänzt werden. Auf die Anomalie kann dagegen weder die oben genannte Dreiheit noch der Blickwinkel der Beschlagnahme angewandt werden. Warum? Weil das Schicksal der Anomalie nicht der Ausschluss ist, sondern schlicht und einfach das Verschwinden.

Die Anomalie verschwindet in dem Augenblick, in dem sie in eine Art juristische und sanitäre Vorhölle überführt wird, wo sie einem nie enden wollenden Untersuchungsverfahren unterworfen wird. Der stets auf ihr lastende Verdacht soll ihr eine Rechtfertigung abzwingen. Die ihr innewohnende Wahrheit stürzt nicht nur die Vernunft um, sondern die Realität selbst, weshalb sie zum Schweigen gebracht werden muss. Im Alltagsleben drückt sich dieser auf die Schuldzuweisung der Anomalie abzielende Prozess oft in einem unausgesprochenen Satz aus, der den an der Normalität Erkrankten in den Ohren dröhnt: „Lebe oder stirb, aber belästige uns nicht länger.”

Aus dem vierten: Die Krankheit als soziales Unbehagen. „Die Erschöpfung als meine eigene Krankheit und gleichzeitig als das schwarze Loch zu postulieren, das all diese immer weiter verbreiteten unbestimmten Krankheiten miteinander verbindet, wird zu einer politischen Entscheidung. Die Erschöpfung drückt aus, was mit uns geschieht und was wir sind. Die Erschöpfung steckt im Herzen des sozialen Unbehagens. Die Medizin hat ihr nichts entgegenzusetzen. Ihr grob vereinfachender Blick schreckt vor einer für sie unbegreiflichen Komplexität zurück.”

Die globale Mobilisierung, das heißt, die Selbstreproduktion dieser Realität, die eins mit dem Kapitalismus geworden ist, zermalmt unsere Leben, denn leben besteht nicht mehr darin zu leben, sondern „ein Leben zu haben”, das erfolgreich gemanagt werden muss. Dass der Kapitalismus krank macht, wird schon seit langem kritisiert, „das Neue” ist, dass wir heute erkranken müssen, um uns an die Normalität anpassen zu können. Von daher auch der Name Krankheiten der Normalität. Normalität ist dieses Leben in Bewegung, das an die Bewegung eines entfesselten Kapitals angekoppelt ist. Chronisches Erschöpfungssyndrom, Depression, vielfache Chemiekalien-unverträglichkeit usw. „Wir wissen einfach nicht, wie wir diese Krankheiten bestimmen sollen. Wir als Mediziner können nichts feststellen. Und die Kranken sterben nie daran”, erklärte mir gegenüber ein Arzt aus einem Ärztezentrum. Die Erschöpfung beschreibt kein Symptom, das dem offensichtlichen Etikett „Müdigkeit” zugeordnet werden könnte, sondern eine Form des Widerstands, das mit dem Leben bezahlt wird. Der Dualität „leben oder überleben” stelle ich also die Dualität „Mobilisierungseinheit oder Anomalie” gegenüber.

Ich greife einen Satz von Artaud auf, der sehr gut ausdrückt, was ich sagen möchte: „Was bringt mir eine Revolution, so fabelhaft diese auch sein mag, wenn ich bis in alle Unendlichkeit leidend und elend in meinem Skelett gefangen bin... Die einzige gute Revolution ist die, die mir und Leuten wie mir zugute kommt.” (Oeuvres Complètes, Paris, 1976, Band I, S.60). Die Leute wie ich, die Artaud meint, ist heute jeder x-Beliebige. Alle, die sich nicht selbst belügen wollen, sich aufrecht halten und sich nicht anpassen, haben Probleme mit dem Leben und diese Probleme sind politisch. Wir alle sind (potentielle) Anomalien. Anomalien waren diejenigen, die am 15. März 2011 die vorgegebenen Rollen (Bürger, Arbeitnehmer usw.) verließen und auf die Plätze gingen, um „Basta Ya” zu rufen. Dann machte uns jedoch die auf diese Weise entfaltete Leere Angst und mit ihr kehrten die alten Diskurse (Rückkehr der neuen Politik, die die alte ist, der Nationalismus der unterdrückten Nationen usw.) zurück, um diese Leere auszufüllen.

Aus dem fünften: Die Anomalie und die Wahrheit. „Das Ergebnis kann in einer kurzen Formel zusammengefasst werden: Idee = Wahrheit + Sinn. Es fehlt jedoch noch ein Schritt. Die Idee muss materielle Kraft werden, um wirklich Idee zu sein. Nur dann wird aus der Wahrheit als Verschiebung eine (wirkliche) Idee, die in der Lage ist auf die Welt einzuwirken. Somit lässt sich behaupten, dass es letzten Endes keine persönliche Ideenproduktion gibt. Etwas anderes ist die Begriffsbildung.”

Der Satz aus dem Buch „Ich weiß, dass ich an einer Krankheit erkrankt bin, die mir die Wahrheit sagt über mich und die Welt” (S. 23) ist zwar kein Resümee des Buches, seine diffuse und hartnäckige Präsenz im Text spielt jedoch eine wesentliche Rolle, denn sie verweist auf die Notwendigkeit einen eigenen Standort zu finden. Gegenüber der Realität erhebt sich mein Lebenwollen. Gegen die Wahrheit des die Welt organisierenden Kapitals setze ich die Wahrheit des kranken Körpers, der sich widersetzt. Oder, was dasselbe ist, das Leben der Anomalie entfaltet sich im Wahrhaftigen, denn seine Rede ist wahr. Zur Begründung dieser Behauptung musste ich eine eigene Theorie der Wahrheit ausarbeiten. Der traditionelle Begriff von Wahrheit als Entsprechung nützte mir genauso wenig wie Heideggers Kritik daran, die ihn zur Definition der Wahrheit als Entbergung (Aletheia) führte, als ein „Sich-selbst-zeigen der Dinge”. Und da ich ja Wahrheit in dem Sinne bestimmen wollte, den wir im Espai en blanc den Kampf des Denkens genannt hatten, konnte ich auch keine Vorstellung einer tragischen Wahrheit verteidigen, wie dies vor allem Nietzsche getan hatte. Die tragische Wahrheit postuliert, dass das Problem des Lebens nur eine ästhetische Lösung haben kann, da die Kunst im Grunde genommen das Einzige ist, was uns einen metaphysischen Trost spenden kann. Ich griff deshalb den Begriff von Wahrheit als Verschiebung wieder auf, an dem ich früher bereits gearbeitet hatte. Die Wahrheit ist eine Verschiebung - ein Prozess und kein Resultat. Die Definition der Wahrheit ist eine Verschiebung oder ein Hereinbrechen, das vom „gesunden Menschenverstand” und der offensichtlichen Realität befreit. Das Kriterium der Wahrheit, das der Definition nicht äußerlich sein kann, ist die Vereinseitigung. Die Vereinseitigung der Raum-Zeit, wodurch die Machtverhältnisse zum Vorschein gebracht werden. Ich sage Wahrheit als Verschiebung muss befreien, aber diese Befreiung darf nicht als Hinzufügung neuer Dimensionen zur Multirealität verstanden werden, was absurd wäre, sondern als Verringerung von Dimensionen. Wahrheit ist Entleerung der Realität!

Ich versuche, anhand einiger Beispiele diese Wahrheit als Verschiebung zu erläutern. Wenn wir anstelle von Selbstwertgefühl von Würde sprechen, lassen wir die Ebene der Selbsthilfebücher hinter uns, die im Grunde immer auf einen feigen Pakt mit dem Leben setzen, und nehmen einen herausfordernden Standpunkt ein. Wenn wir nicht von Beteiligung, sondern von Engagement sprechen, entfernen wir uns von einer machtinternen Problematik hin zu einer machtkritischen Position... Die Wahrheit ist die Verschiebung, genauer gesagt, die Wahrheit wird im Augenblick der Verschiebung erzeugt. Das heißt wiederum, dass das Wahre nicht ewig festliegt und dass die in den vorangegangenen Beispielen beschriebene Würde oder Engagement das Wahre sind, solange sie das Wahre sind. Kurz und gut, die Wahrheit liegt im Vollzug der Verschiebung, in der stets unvollendeten Geste der Verschiebung.

In Hijos de la noche versuche ich zu erläutern, worin diese Verschiebung besteht, wenn sie vom Körper, vom eigenen kranken Körper, ausgeführt wird. Aischylos versicherte, dass wir gezwungen seien, die Wahrheit zu erleiden. Ich denke, es stimmt, dass die Wahrheit erlitten wird, aber gleichzeitig wird sie erobert. Deshalb verweist die Wahrheit als Verschiebung auf eine politische Lösung und nicht auf eine ästhetische. Darum musste auch die Trias Wahrheit-Sinn-Idee vollständig umformuliert werden. Zusammengefasst lässt sich dieser Prozess wie folgt beschreiben: mit der Wahrheit als Verschiebung wird der Sinn erzeugt, oder vielmehr die Sinne. Und der Sinn umfasst die Wahrheit in dem Maße, in dem er zur Kraft, das heißt zur Idee wird. Die Wahrheit wird mit Sinn beladen und nur dann wird sie zur Idee. Die Wahrheit ist also dem Sinn vorgelagert. Die Wahrheit setzt sich jedoch dank des Sinns durch. So wird die mit Sinn beladene Wahrheit zur Kraft in der Idee. Eine Idee ist keineswegs ein geistiges Konstrukt, eine Idee ist ein - immer kollektives - Wortergreifen.

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Als ich das Buch beendet hatte, war ich vollkommen ausgebrannt, ohne Worte. Ich hatte riesige Lust, mich aus der öffentliche Sphäre zurückzuziehen, in der ich mich nicht wohl fühle. Ich habe den Eindruck, dass das endlose vom Parteiensystem gefütterte mediale Rauschen die wirklichen Probleme unterschlägt. Nach langem Zweifeln habe ich mich jedoch entschieden, zu kämpfen, um das Nichtaktuelle in den Vordergrund zu stellen, um die Anomalie einzufordern, die in ihrer Unbeugsamkeit durch und durch unzeitgemäß ist. Insbesondere zwei Sachverhalte haben mich dazu gebracht, diese Intervention zu versuchen. Einerseits die Feststellung, dass Hijos de la noche zwar ganz unterschiedliche Facetten aufweist und als poetischer Text, als politisches Manifest, als geistiger Lobgesang auf das Leben oder als philosophisches Buch gelesen werden kann, dass es aber in jedem Fall hilft, Widerstand zu leisten und sich nicht der Realität zu unterwerfen. Andererseits wurde mir nach einem Mexikoaufenthalt im letzten Sommer und nachdem ich dort Lehrern aus indigenen Gemeinschaften, von denen einige von Morddrohungen betroffen waren, einen Kurs gegeben hatte, bewusst, dass das Lebenwollen zu einer Herausforderung zu machen nicht eine wahnwitzige Idee von jemandem ist, der eingesperrt in einer aufgezwungenen Einsamkeit lebt. Nein. In den im Eigenbau errichteten Hütten an den Hängen der Gebirgskette in der Nähe der Stadt Puebla entdeckte ich einen anderen Sinn meiner Ausführungen, oder besser gesagt, verstand ich viel besser, was ich eigentlich sagen wollte: „Du sprichst von der Nacht... Unsere Nacht dauert jetzt schon 500 Jahre. Wir sind Anomalien, die sich widersetzen...” Und wie mir eine Lehrerin aus Guerrero am letzten Tag erklärte: „Du sprichst von einer Verzweiflung, die wir gut kennen. Wir nennen sie würdige Wut.”

Sie hatte recht, denn die Politisierung des Daseins ist die Selbstorganisation der Schmerzkraft, das Zusammentreffen der Schmerzkraft mit der Kraft der Anonymität. Und das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn die Körper der sich auf dem Boden ausgestreckten mexikanischen Studenten den Satz skizzieren „Es war der Staat”, oder wenn wir uns weigern, Gemeinplätze von uns zu geben und den Regierenden ins Gesicht rufen, dass sie uns nicht repräsentieren.

1) Aus der Zeitschrift: El viejo topo. Nr. 325, Februar 2015
2) Manuel Fernández Márquez. Vor kurzem wurde ganz in der Nähe des Ortes, an dem er umgebracht wurde, eine Gedenkfeier für ihn veranstaltet.
3) Die am 15. März 2011 mit den Besetzungen der zentralen Plätze in Madrid, Barcelona und vielen anderen spanischen Städten entstandene Massenbewegung

[Übersetzung: Horst Rosenberger]