Und wenn wir es aufgäben, Staatsbürger zu sein?

Manifest für die Befreiung von der Ordnung

Butterfly2

Ilustración: Amrei Fiedler

Übersetzung: Ulrich Kunzmann

Man appelliert an uns als Staatsbürger

Heute ist der Staatsbürger kein freier Mensch mehr. Der Bürger ist nicht mehr jener freie Mensch, der in einer freien Gemeinschaft leben will. Das politische Bewusstsein, das man nicht gelehrt bekommt, sondern selbst erringt, ist allmählich verschwunden. Es konnte gar nicht anders sein. Der öffentliche Raum hat sich in eine Straße voller ständig geöffneter Geschäfte verwandelt, in ein Fernsehprogramm, in dem uns ein Vollidiot im Detail erzählt, warum er sich von seiner Frau getrennt hat. Die Schule muss nunmehr nicht das geringste kritische Bewusstsein, sondern das bloße Erlernen „korrekter” staatsbürgerlicher Verhaltensweisen zusammen mit einer Reihe von Techniken und Kompetenzen fördern. Und dennoch: Wenn sich die Politiker an uns wenden, wenn sie den Mund vollnehmen mit ihren Aufrufen zur Partizipation, nennen sie uns weiterhin Staatsbürger. Warum? Warum hält sich ein Wort, das sich allmählich jeder politischen Kraft entleert hat?

Vor allem deshalb, weil uns die Identität des „Staatsbürgers” auf das festnagelt, was wir sind. Sie macht uns zu Gefangenen unserer selbst. Wir sind immer dann Staatsbürger, wenn wir uns als solche verhalten, das heißt immer dann, wenn wir tun, was wir sollen und was man von uns erwartet: Arbeiten, verbrauchen, uns unterhalten ... Alle vier Jahre zu wählen, ist in Wahrheit nicht so wichtig. Erst durch unser Verhalten und im täglichen Leben hauchen wir der moribunden Figur des Staatsbürgers wirklich Leben ein. Alsdann gesteht man uns ein Leben zu. Staatsbürger ist derjenige, der sein Leben als Eigentum besitzt, genauer gesagt derjenige, der sein Leben zu managen weiß und rentabel machen kann. Letzten Endes ist ein sozial gescheiterter Mensch kein echter Staatsbürger, bei ihm handelt es sich um einen Bürger zweiter Klasse. Ganz zu schweigen von einem Immigranten ohne Papiere, der nichts weiter als ein stigmatisierter Schatten in unseren Diensten sein kann. Vom Staatsbürger zu sprechen, bedeutet, von Glauben zu sprechen. Staatsbürger ist nicht derjenige, der denkt, sondern derjenige, der glaubt. Der glaubt, was ihm die Macht sagt. Zum Beispiel, dass der Terrorismus unser größter Feind sei. Oder, dass es der Sinn des Lebens sei, zu arbeiten. Letztlich ist es derjenige, der glaubt, dass „die Realität die Realität ist” und dass es sich an sie anzupassen gelte. Aber es fällt schwer, an eine Realität zu glauben, die sich zeitweise auflöst: Wir müssen Arbeiter sein und es gibt keine Arbeitsplätze; wir müssen Verbraucher sein und die Waren sind sinnleere Gadgets; wir müssen Staatsbürger sein und es gibt keinen öffentlichen Raum. Denn der Staatsbürger ist schließlich der grundlegende Bestandteil „des Demokratischen” und „das Demokratische” ist gegenwärtig die wichtigste Form von Kontrolle und Herrschaft.

Von der Demokratie zum „Demokratischen”

Um zu verstehen, welche zentrale Rolle die Figur des Staatsbürgers spielt, können wir nicht mehr lediglich im Rahmen dessen bleiben, was man schon immer als Demokratie bezeichnet hat. In dem Maße, wie die Demokratie zur Staatsform wurde und aufhörte, „die am wenigsten schlechte Regierungsform” zu sein, wie man es uns so oft gesagt hat, erfährt sie zwangsläufig eine vollständige Transformation. Um diesem Wandel Rechnung zu tragen, schlagen wir vor, eine Verlagerung vom Begriff der „Demokratie” zu dem „des Demokratischen” vorzunehmen. „Das Demokratische” wäre dann der Formalismus, der die globale Mobilisierung ermöglicht. Die globale Mobilisierung stellt nun das Projekt dar, das in die neoliberale Globalisierung eingeschrieben ist und als solches in der Mobilisierung unseres Lebens dahingehend besteht, diese vollständig kapitalistische Realität — einfach indem man lebt — zu (re)produzieren. Eine Realität, die man uns als pluralistisch und einzigartig, als offen und geschlossen und vor allem mit der unwiderlegbaren Macht des Selbstverständlichen, aufzwingt. Diese Realität erdrückt uns, weil sich in ihr (beinahe) an jedem Ort und (beinahe) in jedem Moment ein und derselbe Vorgang vollzieht: Das hemmungslose Wirken des Kapitals. Die Funktion „des Demokratischen” ist es nun, zu ermöglichen, dass sich diese globale Mobilisierung, die sich mit unserem eigenen Leben vermengt, erfolgreich entfaltet. „Erfolgreich” bedeutet, dass man dank „des Demokratischen” die Konflikte, die das hemmungslose Wirken des Kapitals hervorruft, wirkungsvoll regeln und die Äußerungen des sozialen Unbehagens eindämmen kann — und all das, weil „das Demokratische” es ermöglicht, die politische Dimension aus der Realität selbst herauszureißen und so jeden Versuch einer gesellschaftlichen Transformation zu neutralisieren.

Aus diesem Grund fällt es nicht leicht, zu definieren, was „das Demokratische” ist. Der Wesenskern dieses Formalismus besteht aus der Verbindung zwischen Kriegszustand und postmodernem Faschismus: Zwischen Heteronomie und Autonomie, Kontrolle und Selbstkontrolle. Sehen wir uns das genauer an. „Das Demokratische” basiert auf einer doppelten Prämisse: 1) Der Dialog und die Toleranz, die auf eine angebliche Horizontalität verweisen, da sie jede Differenz auf ein rein persönliches Meinungsproblem und eine kulturelle Option zurückführen. 2) Die als Krieg verstandene Politik, die voraussetzt, dass man einen inneren/äußeren Feind erklärt und die auf eine vertikale Dimension verweist. „Das Demokratische” soll das — wohlverstanden scheinbare — Wunder verwirklichen, in einem Kontinuum zu vereinen, was normalerweise entgegengesetzt erscheint: Frieden und Krieg, Pluralismus und Repression, Freiheit und Gefängnis. In diesem Sinne geht „das Demokratische” über jene Verbindung hinaus und zerstreut sich, indem es einen wahren Formalismus für Unterwerfung und Preisgabe bildet. Doch „das Demokratische” — obgleich es der Formalismus ist, der die globale Mobilisierung ermöglicht — lässt sich nicht in Bezug auf die Dualität Repression/Nichtrepression organisieren, die stets ein allzu einfaches Modell ist. „Das Demokratische” ist ein Sammelsurium, das von den zivilrechtlichen Vorschriften, die in vielen Städten verkündet werden, über die Nachbarschaftspolizei, die zu Denunziationen auffordert, bis hin zu den Ausländergesetzen reicht. Oder auch dem Gefängnis. „Das Demokratische” definiert unmittelbar den Rahmen dafür, was man denken, was man tun und wie man leben kann ... Genauer gesagt definiert es den Rahmen dafür, was man denken, was man tun und wie man leben muss, wenn man sich selbst, Männer wie Frauen, als frei bezeichnet.

Die Krise hat begonnen ...

Dieses Raster von Begriffen, Werten und Zielen, das wir uns als Staatsbürger zu eigen machen — Staatsbürger zu sein, heißt mithilfe von diesen Vorgaben eines Paktes mit der Realität zu denken und zu handeln — ist dasselbe, das wir auf die Krise anwenden. Die Krise, die symbolträchtig am 23. Oktober 2008 mit dem Zusammenbruch der Bank Lehman Brothers begann, erscheint als die zweite Große Krise, als so etwas wie eine apokalyptische Bewährungsprobe, die wir entweder bewältigen können oder die uns gemeinschaftlich ins Elend stürzt. Merkwürdig bei dieser Krise ist allerdings die Schlichtheit der Analyse, wenn man die technische Terminologie einmal beiseite lässt. Die Krise macht aus der Realität eine Art Videospiel, an dem wir angeblich alle teilnehmen. Es ist kein Zufall, dass man von Kasino–Wirtschaft spricht. Im Videospiel gibt es ein Szenario mit seinen Guten und seinen Bösen ... und wir wissen, dass es am Ende Sieger und Verlierer geben wird. Wenn uns die deutsche Bundeskanzlerin Merkel beispielsweise versichert, dass es „einen Kampf der Politiker gegen die Märkte” gebe, der das Ziel verfolge, den Vorrang der Politik über die Wirtschaft wiederherzustellen, stellt sie offenkundig einige der Hauptfiguren vor: Politiker und Staat (die Guten) werden von den Märkten und den Spekulanten (den Bösen) gezwungen, unumgängliche Reformen ins Spiel einzuführen. Als Hintergrund, und das ist ein wesentliches Argument des Szenarios, soll es so etwas wie eine verallgemeinerte Schuld geben: „Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt.” In Anbetracht des ungehemmt wirkenden Kapitals und seiner Flucht nach vorn, die möglich geworden ist, weil es zwischen Macht und Kapital ein gegenseitiges Weiterdrängen gibt, eine echte Zusammengehörigkeit¹, erscheint diese Erklärung vollkommen lächerlich. Spekulation gehört zum Wesen des Kapitalismus, wenn sie heute durch das Finanzwesen auch die ganze Gesellschaft erfasst hat. Das Kapital ist „mehr” Kapital und „mehr als” Kapital, das heißt Macht.

Der neue persönliche Vertrag und der Krieg

Die Krise besteht nun in einer für die Mehrheit ungünstigen Situation, die politisch hervorgerufen wurde und sich trotzdem selbst als naturgegeben darstellt. Sie als eine Form der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals zu beschreiben, trifft zum großen Teil zu, ist jedoch unzureichend. Wenn die Krise — oder besser gesagt, wenn diese globale Krise — eine Bedeutung hat, liegt dies daran, dass in ihr und durch sie überdies ein neuer Gesellschaftsvertrag in Gang gesetzt wird. Dieser neue Gesellschaftsvertrag ist es, der dazu berechtigt, an der globalen Mobilisierung teilzunehmen, die die Welt, — konkreter diese vollständig kapitalistische Realität ohne Außen, die unsere Welt ist — hervorbringt. Der Gesellschaftsvertrag, dem die offizielle Arbeiterbewegung zustimmte und der bis Ende der siebziger Jahre in Kraft war, postulierte ganz klar: „Sozialer Frieden im Austausch für Geld” . Nach der Niederlage der Arbeiterklasse zum Ende der siebziger Jahre individualisiert sich der neue Gesellschaftsvertrag vollständig, denn jetzt ist er auf jeden Einzelnen von uns ausgerichtet. Der Gesellschaftsvertrag wird zu einem persönlichen Vertrag. Seine Formulierung ist ebenfalls ganz klar: „Das Leben im Austausch für die absolute Beschäftigungsfähigkeit” . In der globalen Epoche kann man nur leben — und leben heißt, ein Leben zu haben — wenn dieses Leben, das man hat, der Träger einer neuen Seinsweise ist: Die der absolutesten Beschäftigungsfähigkeit. Die Prekarität wird existenziell. Letzten Endes erkennt dich der neue persönliche Vertrag als das an, was du bist und was allein du sein kannst: (Ein) Humankapital. Realität und Kapitalismus nähern sich einander an, wie sie es noch nie getan haben und das Leben bildet den Ort ihrer vollständigen Verschmelzung. Wie einseitig und beruhigend ist es, weiterhin lediglich von Vermarktung oder Privatisierung zu sprechen, angesichts einer Erscheinung, die sowohl die Subjektivität als auch die Realität selbst verändert!

Die absolute Beschäftigungsfähigkeit als Seinsweise, das als Maximierung seiner Rentabilität verstandene Leben und das als ein Marken–Ich aufgefasste Ich implizieren eine permanente Demütigung, hinter der es nur die schiere Willkür der Gewalt geben kann. Der neue persönliche Vertrag ist die feierliche Anerkennung der Willkür in ihrer umfassendsten Bedeutung. Damit zeigt sich, dass die Willkür, die in Form von (monetärer, militärischer, ...) Gewalt ausgeübt wird, das heißt, die Macht in ihrer reinen Willkür, paradoxerweise weiterhin eine wohldefinierte Grundlage besitzt. Die Grundlage oder das Prinzip der (globalen) Ordnung ist der Krieg. Die globale Mobilisierung ist der Krieg gegen uns und dieser Krieg gestaltet die Welt. Man kann sagen: Wenn der Klassenkampf, der von den Klassengewerkschaften organisierte Antagonismus der Arbeiter die Triebkraft und zugleich das Element des Zusammenhalts der Industriegesellschaft bildete, ist es nun der vom „Demokratischen” ausgehend organisierte Krieg, der dieselben Funktionen wahrnimmt. Der Staatsbürger wurde als wesentlicher Bestandteil der globalen Mobilisierung neu dimensioniert. Man appelliert an uns als Staatsbürger, während man uns eigentlich als wahre mobilisierte Einheiten will. Es ist höchste Zeit, diese leere Hülle aufzugeben, diese rhetorische Figur, durch die nur die Stimme der Macht sprechen kann. Als Staatsbürger und wenn wir als Staatsbürger handeln, haben wir den Krieg schon von vornherein verloren. Und wenn wir es daher aufgäben, Staatsbürger zu sein?

Die Zwecklosigkeit zu argumentieren

An diesen Punkt gelangt, öffnet sich der Abgrund unter unseren Füßen und ein Teufel flüstert uns ins Ohr: „Würdest du es wagen, dein eigenes Gefängnis zu verlassen?” Seine Staatsbürgerschaft aufgeben zu wollen, ist ein Wahnsinn, ist eine Absurdität. Es ist sogar reaktionär. Wir könnten viele Argumente dagegen anführen. Tatsächlich würden alle Argumente, die wir vorbringen könnten, sehr wenig nützen. Denn wie soll man eine Position widerlegen, die sich innerhalb der Grenzen dessen befindet, was man denken kann/muss? Es gibt nur einen Weg: aussteigen. Aus allem aussteigen. Aussteigen aus den mittelmäßigen Sicherheiten, die uns quälen, den einfachen Wahrheiten, den Zweifeln. Aussteigen aus der Selbsttäuschung und der Verbreitung der Täuschung. Aussteigen aus dieser Welt. Ich weiß nicht, ob ich aussteigen kann.

Aber ich weiß, wer aussteigt. Ich weiß, dass es Leute gibt, die aussteigen. „Wir haben nichts zu verlieren. Was kommt es schon darauf an, was wir wollen?” , antwortete ein griechischer Demonstrant, der gerade die Polizei mit einem Stein beworfen hatte, dem ihn befragenden Journalisten. Die Antwort erinnert an den bekannten Satz aus Marx’ Kommunistischem Manifest: „Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten.” Die Wandlung ist dennoch wesentlich. Jetzt gibt es keinen Befreiung verheißenden Horizont, nur den Willen diese Realität, die sich mit dem Kapitalismus vereint hat, zu vernichten. Der Kampf selbst ist bereits unmittelbar Befreiung. Aus dieser Realität steigt auch derjenige aus, der, wenn er aus seinem Leben–Wollen eine Herausforderung macht, sein Leben zerschlägt und sieht, wie sich Schlaflosigkeit seiner bemächtigt. Aus dieser Realität steigen die Genossen aus, die mit dem Allernötigsten leben, um einen Verlag am Leben zu erhalten, der ein Dolchstoß ins Herz dieser stumpfsinnigen Realität ist. Wie auch die aussteigen, die gemeinschaftlich weniger verbrauchen wollen. Oder jene, die sich treffen, um sich Tag für Tag vor den Abgrund des Unwissens zu stellen. Es steigen diejenigen aus, die sich nichts vormachen wollen und die Wahrheit schmerzt allmählich.

Kämpfen heißt, konkrete Auswege zu erfinden und dies, wenn möglich, gemeinschaftlich zu tun. Es steigen also diejenigen aus, die die Figur des Staatsbürgers aufgeben, und dies kann man auf zwei unterschiedliche Arten tun. Die erste besteht darin, eine andere Welt aufzubauen, die sich dieser Welt hier entgegenstellt: Unser Verlag, unsere freie Softwaregenossenschaft, meine Krankheit ... gegen diese Welt hier. Beim Gegensatz zwischen Welten kommt es überhaupt nicht mehr auf das Kräfteverhältnis an, sondern auf die Macht der Herausforderung. Eine Herausforderung, zu der sonderbarerweise gehören kann, dass man dem Markt den Markt selbst oder die Krankheit der Gesundheit entgegenstellt. Die zweite Art bringt Zerstörung mit sich. Nicht länger Staatsbürger zu sein, bedeutet dann, die von einer erzwungenen Verantwortung erzwungenen Grenzen zu untergraben. „Die Wirtschaft ist in der Krise: Soll sie krepieren!” Unmögliche Rechte zu verlangen und zu erzwingen. Die Verantwortungslosigkeit als Möglichkeit verstanden, sich von der Angst zu befreien, die sich uns verinnerlichen will. Die Verantwortungslosigkeit, die es immer und in jeder radikalen Geste gibt, wenn sie die globale Mobilisierung unterbricht und einen Raum der Anonymität eröffnet. Die Räume der Anonymität werden nicht im Umfeld der Pronomen (ich, du, er, ...) organisiert und deshalb schneiden sie jeden politischen Weg ab, der auf einen Gesellschaftsvertrag ausgerichtet ist. Die Räume der Anonymität sind jene Räume, in denen die Leute das Wort ergreifen und die Angst verlieren. Wir müssen die Figur des Staatsbürgers aufgeben, damit die Kraft der Anonymität, die jedem Einzelnen von uns innewohnt, hervortreten kann.

Aus dem Spanischen von Ulrich Kunzmann

¹ Deutsch im Original (Anm. d. Ü.)