Technologische Souveränität

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Ilustração: Azul Azul

Übersetzung: Tatiana Abarzúa

Das Thema der technologischen Souveränität ging mir seit einem Interview mit Margarita Padilla immer wieder durch den Kopf.1 Dieses Gespräch war auch der Auslöser für ein Kippen meiner Vorstellung des Technopolitischen sowie von Motivationen und Ambitionen hinter dessen Entwicklung. Der vorliegende Text definiert, was ich als technologische Souveränität verstehe, beschreibt einige Gemeinsamkeiten der Initiativen, die zu ihrer Entwicklung beitragen und befasst sich mit ihrer immer ausschlaggebenderen Bedeutung im aktuellen Kampf gegen die Vermarktung, die weltweite Überwachung und die Trivialisierung der Kommunikationsinfrastruktur.

Ein erster Aspekt, der durch die technologischen Souveränität umrissenen Problematik, ist der Mangel an frei verfügbaren Technologien. Wie es Margarita Padilla aufzeigt: „Jene alternativen Projekte, die wir entwickeln, bedürfen eines Aufwandes. An dieser Stelle gibt es also eine Verzögerung und derzeitig haben wir keine freien Mittel für die gesamte Menschheit, die telemetrische [die Bereiche Telekommunikation und Informatik verknüpfende]2Geräte verwendet. Wir haben die Souveränität vollständig verloren. Wir verwenden die Werkzeuge des Web 2.0 als wären sie übernatürlich, als würde es sie ewig geben. So ist es jedoch nicht, da sie sich in den Händen von Unternehmen befinden und diese zum Besseren oder Schlechteren, nicht auf ewig bestehen.3 Und wenn wir uns fragen, wie es dazu kommen konnte, dass wir mit den Werkzeugen, die wir immer öfter und allgegenwärtig nutzen, unsere elektronische Identität und all ihre Relevanz in unserem Alltagsleben mit solcher Leichtigkeit an multinationale Unternehmen, Multimillionäre, kafkaeske Alpträume delegieren, lautet die Antwort: Dies tun wir, „weil wir ihnen keinen Wert beimessen. Im Bereich der Ernährung ist es ähnlich. Hier organisieren sich jedoch Selbstversorger–Gruppen, um ohne Zwischenhändler beliefert zu werden. Warum beziehen Menschen den technischen Support, den sie im Leben brauchen, nicht auch direkt von ihren technologischen Zulieferern — genauso wie ihre Möhren?”

Für die Menschen, deren Aktivismus in der Entwicklung freier Technologien besteht, ist es (oftmals) wichtig, die eigenen Freunde, Familienangehörige, Kollegen und die zugehörigen Kollektive von der Bedeutung freier Alternativen zu überzeugen. Um das zu erreichen, müssen sie Vorgehensweisen austüfteln, die andere einschließen, die pädagogisch und innovativ sind. Der Vergleich zwischen Technologie– und Ernährungssouveränität stellt sich unter anderem in Bezug auf die vorangegangene Frage nach dem Wert davon als nützlich heraus, wer die von uns benötigten Technologien herstellt und unterhält. Das Konzept der Ernährungssouveränität wurde 1996 anlässlich des Welternährungsgipfels der Food and Agriculture Organization of the Unit (FAO) von der Vía Campesina4 eingeführt. Eine spätere Erklärung5 definiert Ernährungssouveränität folgendermaßen:

„Ernährungssouveränität ist das Recht der Völker auf gesunde und kulturell angepasste Nahrung, die nachhaltig und unter Achtung der Umwelt hergestellt wird. Sie ist das Recht auf Schutz vor schädlicher Ernährung. Sie ist das Recht der Bevölkerung, ihre Ernährung und Landwirtschaft selbst zu bestimmen. Ernährungssouveränität stellt die Menschen, die Lebensmittel erzeugen, verteilen und konsumieren, ins Zentrum der Nahrungsmittelsysteme und –politik, und nicht die Interessen der Märkte und Unternehmen. Sie verteidigt und berücksichtigt die Interessen kommender Generationen [ … ] Ernährungssouveränität stellt die lokale Wirtschaft und die lokalen und nationalen Märkte in den Vordergrund. Sie fördert bäuerliche Landwirtschaft, Familienbetriebe sowie den traditionellen Fischfang und die Weidewirtschaft. Erzeugung, Verteilung und Verbrauch der Lebensmittel müssen auf umweltbezogener, sozialer und wirtschaftlicher Nachhaltigkeit beruhen. Ernährungssouveränität bildet und stützt neue soziale Beziehungen, die frei von Unterdrückung und Ungleichheit zwischen Männern und Frauen, Völkern, ethnischen Gruppen, sozialen Klassen und Generationen sind.6

Ausgehend von dieser Perspektive ist es leichter, den Begriff der technologischen Souveränität verständlich zu machen. Fast könnte man diese Erklärung nehmen und „Ernährung” mit „Technologie” ersetzen sowie „Landwirte und Bauern” mit „Entwicklern von Technologien”. Und sobald die Idee erzählt werden kann, besteht auch die Möglichkeit, dass sie soziale Vorstellungswelten durchdringen und eine radikale und transformierende Wirkung hervorrufen kann.

Weitere Ansatzpunkte für Thesen zur technologischen Souveränität beruhen auf Fragen an uns selbst: Welche Fähigkeiten und wie viel Lust bleiben uns, unsere eigenen Technologien zu träumen? Und: Wieso haben wir vergessen, dass die Zivilgesellschaft bei der Gestaltung einiger der wichtigsten Technologien unserer jüngeren Geschichte eine entscheidende Rolle gespielt hat?

Wir definieren Zivilgesellschaft als Gesamtheit von Bürgerinnen und Kollektiven, deren individuelle und kollektive Aktionen nicht in erster Instanz durch Gewinnstreben motiviert sind, sondern durch den Versuch, Wünsche zu erfüllen und Bedürfnisse zu befriedigen und damit zugleich soziale und politische Transformation zu fördern.

Um den Widrigkeiten sozialer Bewegungen — wie dem Paradox des kollektiven Handelns7, ungünstigen politischen Gelegenheiten oder der mangelnden Mobilisierung von Ressourcen — entgegenzuwirken, hat die Zivilgesellschaft stets taktische Anwendungen der Informations– und Kommunikationstechnologien, der Medien und des freien Ausdruckes im Allgemeinen entwickelt. Zum Beispiel: Die Organisation von Kampagnen, um Kämpfe, Aktionen und Alternativen sichtbar zu machen; das Sammeln finanzieller Mittel und die Entwicklung von Mechanismen, um Freiwillige und Teilnehmer einzubinden (um die soziale Kraft und die Basis zu erweitern); das Dokumentieren von Prozessen, um ein kollektives Gedächtnis zu erzeugen; die Erleichterung des Wissenstransfers beispielsweise durch einen vereinfachten Zugang aller zu Informationen; die Verbesserung der Verwaltung und der internen Organisation des Kollektivs; die Etablierung von Kanälen der Interaktion, die Förderung von Transparenz und Interaktion mit Institutionen und anderen Akteuren; das Angebot von Dienstleistungen und Lösungen für Endverbraucher. Diese Nutzungsarten und taktischen Entwicklungen von Technologien überlappen sich hin und wieder mit der Dynamik sozialer Innovation und kollektiver Intelligenz. Beispiele dafür sind: Genossenschaften, öffentliche Bibliotheken, Mikrokredite oder alternative Systeme der gemeinsamen Nutzung von Ressourcen.

Durch all diese Ansätze hat sich die Zivilgesellschaft nie auf eine passive Nutzung technologischer Werkzeuge beschränkt, die von anderen entwickelt wurden. Von anderen heißt: Von weißen, reichen, oft soziopathischen Männern wie Bill Gates, Steve Jobs oder Mark Zuckerberg. Vielmehr hat sie an der Gestaltung eigener Werkzeuge mitgewirkt und so ihre technologische Souveränität gefördert: Gemeinschaftliche Radio– und Fernsehsender; der Start des ersten nicht militärischen Satelliten ins All; ein erstes Internetportal für offene und anonyme Veröffentlichungen; die Bereitstellung von Verschlüsselungstechnik; die Entwicklung freier Software und Lizenzen.

Nichtsdestotrotz bildet sich unsere elektronische und soziale Identität auf eine immer eindrücklichere Art und Weise und jedes Mal mehr aus all dem, was wir im digitalen Universum machen — sei es mit einem Mobiltelefon oder einer Karte. Diese Unmenge an Daten bildet unseren sozialen Graphen: Seine Analyse verrät nahezu alles über uns und die Menschen, mit denen wir interagieren. Und trotzdem weiß niemand, was uns noch fehlt, um zu begreifen, wie wichtig es ist, auf Anbieter von freien Technologien zu bauen. Brauchen wir eine technologische Hekatombe8, wie das Stilllegen von Google und all seiner Dienstleistungen? Wir wissen, dass Microsoft, Yahoo, Google, Facebook, YouTube, AOL, Skype und Apple gemeinsame Sache mit der Nationalen Sicherheitsbehörde der USA machen, um uns auszuspionieren — zum Beispiel im Rahmen des Programms PRISM. Doch reicht dieses Wissen aus, um Gewohnheiten zu ändern?

Um diesen Dynamiken entgegenzuwirken, benötigen wir eine Vielzahl an Initiativen, Unternehmen, Kooperativen und informellen Kollektiven, die uns mit den freien Technologien versorgen, die uns fehlen. Technologien, deren Gestaltung uns Freiheit garantiert und die nicht geeignet sind, unsere Vereinzelung oder Unfreiheit zu fördern. Technologien, die unsere Rechte in Bezug auf freien Ausdruck, Zusammenarbeit, Privatsphäre und Anonymität sicherstellen. Wenn wir möchten, dass Technologien diese Garantien erfüllen, dann müssen wir sie selbst erschaffen sowie bereits bestehenden Lösungen die entsprechende Bedeutung zumessen und somit zu ihrer Entwicklung beitragen. Das hacktivistische Kollektiv Autistici/Inventati formulierte es so: „Freiheiten und Rechte? Dafür musst Du bluten, auch im Internet.”9

404 not found – Entschuldigen Sie die Störung, wir erschaffen Welten!

Bei der technologischen Souveränität geht es um Werkzeuge, die von der und für die Zivilgesellschaft entwickelt wurden. Mit ihnen versuchen Initiativen Alternativen zu den kommerziellen und militärischen Technologien zu schaffen. Ihre Aktivitäten zeigen, dass sie sich an die Imperative soziale Verantwortung, Transparenz und Dialog (Interaktivität) halten, was wiederum das Vertrauen in sie stärkt. Ihre Ansätze basieren auf Software, Hardware oder freien Lizenzen — weil sie diese nutzen oder entwickeln (häufig überschneiden sich beide Dynamiken) — doch ihr Einsatz geht über diesen Beitrag hinaus. Anders gesagt: Nicht jeder, der Teil einer freien oder offenen digitalen Kultur ist, qualifiziert sich automatisch, Teil des Feldes der technologischen Souveränität zu sein.

Mit einem kritischen Technologie–Ansatz studieren diese Initiativen auch, wie wir mit anderen Menschen in Beziehung treten, interagieren und technische Angebote konsumieren. Sie versuchen zu verstehen, wie mensch sich den ökologischen und sozialen Kosten der Produktionszentren stellen kann und sie versuchen auch, die programmierte Obsoleszenz zu demontieren10, indem sie die Lebensdauer und Effizienz jedweder Technologien, Produkte oder Dienstleistungen soweit wie möglich verlängern. In gewissem Sinne geht es darum, dem technologischen Fetischismus entgegenzutreten, den das Kollektiv Wu Ming als Diskurse und Praktiken beschreibt, :

„wo täglich nur die im Netz wirkenden Befreiungspraktiken betont und als Regel beschrieben und die Praktiken der Unterordnung implizit lediglich als Ausnahmen beanstandet werden: Praktiken, wie die Ausbeutung und die unzureichende Bezahlung intellektueller Arbeit; wie die Verwendung des Netzes zur Überwachung und zum Einsperren von Menschen; wie seine Nutzung zur Auferlegung neuer Idole und Fetische, um neuen Konformismen Vorschub zu leisten, und zur Verbreitung der vorherrschenden Ideologie; und wie sein Gebrauch als Handelsplatz des Finanzkapitalismus, der uns zerstört. Vielleicht sitzen wir so oder so in der Scheiße, aber zumindest werden wir nicht beschissen und sind dabei auch noch froh. Das Unrecht geht weiter, doch wenigstens nicht die Beleidigung, die es bedeutet, zu glauben, wir seien in Bereichen frei, in denen wir ausgebeutet werden”.11

Diese Kritik am technologischen Fetischismus wurde auch von Kollektiven wie Ippolita12, Planéte Laboratoire13, Bureau d'etudes14, Tiqqun15, sowie von Hacktivisten–Kollektiven betont, die an der Verwendung freier Werkzeuge festhalten. Sie alle beteiligen sich am Bestreben, die von der Kybernetik geerbten Ontologien und Paradigmen zu überdenken, und dabei hervorzuheben, dass die Kontexte, Motive und die für die Entwicklung der Technologien verwendeten Mittel von Bedeutung sind und deren soziale, wirtschaftliche und politische Auswirkungen bestimmen. Selbst wenn der kausale Zusammenhang mitunter schwer darzulegen ist, ist es wichtig zu verstehen, dass keine neutralen Technologien existieren. Sie alle sind Absichtserklärungen und zeitigen mannigfaltige Folgen. Wie viele und welche wir wählen, erleiden oder ablehnen wollen, bleibt weiterhin eine Entscheidung unter unserer Verantwortung als kommunikative Wesen.

Die technologische Souveränität zu denken, bedeutet auch zu untersuchen, welche verschiedenen Technologien innerhalb sozialer Prozesse genutzt werden und wie diese die Autonomie fördern. Seien es Technologien des Alltags mit ihren Lösungen für tagtägliche Probleme oder komplexere Dispositive, die Gestaltung und Wartung benötigen, um ihre Ziele zu erfüllen. Seien es Technologien mit mehreren Funktionen, Technologien aus dem digitalen Universum oder Technologien des Geschlechts16und der Subjektivität17. Wir können Technologien über Aspekte wie ihren Netzwert definieren oder sie darauf reduzieren, wie viel Engagement und Aufmerksamkeit sie benötigen, um weiter zu funktionieren. Jede Einzelne von uns ist Expertin ihrer eigenen Beziehung zu den Technologien. Deshalb können wir uns alle daran probieren, diese Beziehung zu analysieren, um sie neu zu erfinden.

Wir glauben, dass eine besser verteilte kollektive Anstrengung hin zu einer technologischen Souveränität schon in Begriff ist, ihr transformatives, revolutionäres Vermögen zu erweisen. Wie es um die Wiederaneignung und Konstruktion neuer Vorstellungswelten für die Zukunft steht, notierte die Organisation Autonomer Astronauten: „Die Gemeinschaften der Schwerelosigkeit sind in Reichweite, nur die Trägheit der Gesellschaft verhindert, dass sie gebildet werden. Doch ihre Basis ist schon geschaffen und wir werden den erforderlichen Antrieb entwickeln.18

Die technologische Souveränität repräsentiert diese Gemeinschaften der Schwerelosigkeit, die dem Moment des Abhebens jeden Tag näher kommen.


Aus dem Spanischen von Tatiana Abarzúa



1 http://medialab–prado.es/person/margarita_padilla_
2 (Anm. d. Ü.)
3 Interview Lelacoders verfügbar (auf Spanisch): https://vimeo.com/30812111
4 http://viacampesina.org/en/
5 Erklärung von Nyéléni, Forum for Food Sovereignty, Mali 2007. (Anm. d. Ü.)
6 https://es.wikipedia.org/wiki/Soberan%C3%ADa_alimentaria
7 „In Wirtschaft, Kollektivverhandlungen, Psychologie und Politikwissenschaften, werden diejenigen Individuen oder Körperschaften, die mehr als einen gleichberechtigten Anteil einer Ressource konsumieren, oder keinen fairen Beitrag zu den Produktionskosten beisteuern, Trittbrettfahrer genannt. Das Trittbrettfahrer–Problem (aus dem Englischen free rider problem) befasst sich mit der Frage nach Strategien zur Vermeidung von Trittbrettfahrern und mit Möglichkeiten die negativen Effekte zu begrenzen.” Quelle: https://es.wikipedia.org/wiki/Problema_del_poliz%C3%B3n.
8 Griechisches Tieropfer (Anm. d. Ü.)
9 http://www.infoaut.org/index.php/english/item/8937–freedom–and–rights?–you–have–to–sweat–blood–for–them–on–the–internet–too–infoaut–interviews–autistici/inventati
10 Wir empfehlen dieses Lernvideo ohne Dialoge (A tale by Big Lazy Robot VFX
11 http://www.rebelion.org/noticia.php?id=139132
12 http://www.ippolita.net/en
13 http://laboratoryplanet.org/
14 http://bureaudetudes.org/
15 http://tiqqunim.blogspot.com.es/2013/01/la–hipotesis–cibernetica.html
16 Dies ist eine Fußnote, jedoch kein Detail: "Die Geschichte der Menschheit würde davon profitieren, umgetauft zu werden in "Geschichte der Technologien", zumal Geschlecht und Gender in ein komplexes technologisches System eingravierte Gebilde sind." Beatriz Preciado, Kontrasexuelles Manifest
17 Soziale Technologien, wie zum Beispiel die Organisation von Sitzungen, Entscheidungsprotokolle für Konsensverfahren, etc. All dies sind soziale Technologien und damit nicht nur digitale oder analoge soziale Technologien, sondern vielmehr immaterielles Wissen, das von der Geschichte und der Erinnerung der sozialen Bewegungen organisiert wird.
18 Quelle: http://www.ain23.com/topy.net/kiaosfera/contracultura/aaa/aaa_intro.htm