Hieron – Vollkommene Welt

anjo e nuva.jpg

Illustration: Joanna Latka

I.

Verchromtes Ebenbild
Hierons
Trohnt
Auf der kalten Asche Berg
Im Tal
Ohne Fenster die
Kasernen
Schwarz
Roter
Arbeiter
Lack auf ihrer Haut
Schweiß
Der Glanz
Im grellen Flutlicht
Tag und Nacht
Die Erde
In ihren Händen
Zerrinnt

Vom Weltenrand
Flutlicht
Immer Flutlicht
In den Arenen
Der Hingerichteten

Kein Wind
Mehr
Zwischen den Häusern
Aus
Stahl
Sie halten fest
Was sich bewegt
Arme und Beine
Immer gleich
Taube
Blinde
Köpfe
Die Maschine Arbeit
Kein Himmel
Keine Erde
Die Köpfe fallen herunter
Auf ihnen die
Lautsprecher
Hierons
Mit Leben
Vom Weltenrand
Flutlicht
Immer Flutlicht
In den Arenen
Der Hingerichteten
Schwarz
Rote
Arbeiter
Glänzt
Kalt
Schwer
Löcher schlagt ihr
In eure Herzen
Die Welt ist sein
Ihr seid sein
Die Wände der Kasernen
An denen Schweiß
Herunterläuft
Alles still
Hieron
Allmächtiger
Gott

Vom Weltenrand
Flutlicht
Immer Flutlicht
In den Arenen
Der Hingerichteten

Die Tiere
Fort
Die Bäume
Gefallen
Wind in seinem Mund
Die Sonne
In seinen Händen
Die Erde sein
Die Erde zu klein

Vom Weltenrand
Flutlicht
Immer Flutlicht
In den Arenen
Der Hingerichteten

II.

KATRIN


Der Baum ist schön in diesem Jahr. Ob Hieron es schneien lassen wird?

ALEXANDER


Was weißt du von Schönheit, was ich nicht weiß, was niemand weiß?

KATRIN


Es sagt sich so, der Baum ist schön, jedes Jahr. Und mit Schnee, da sieht es draußen schön aus.

ALEXANDER


Jedes Jahr sagt es sich so an Weihnachten. Jedes Jahr der selbe Baum. Jedes Jahr ein schöner Baum und jedes Jahr freust du dich darüber. Und immer fragst du dich, lässt Hieron es schneien.

KATRIN


Kannst du nicht davon ablassen, dich aufzulehnen gegen diesen einen schönen Tag. Es ist der einzige Tag, an dem wir uns freuen dürfen. Sollen wir diesen Tag verstreichen lassen, als gäbe es ihn nicht?

ALEXANDER


Ein einziger schöner Tag neben all den hässlichen Tagen. Die immer selbe Freude an diesem Tag jedes Jahr, ist sie noch Freude? Ist sie nicht viel mehr Traurigkeit?

KATRIN


Mit deinem Gerede machst du traurig, was der Freude versprochen ist. Und was weißt du von Traurigkeit, was ich nicht weiß, was niemand weiß? Hältst du dich für trauriger als mich oder den Rest der Welt?

ALEXANDER


Traurigkeit ist das Wort, an das ich mich erinnere. Traurigkeit, das ist so ein Wort wie Schönheit und nichts ist darin, nichts kommt aus unseren Wörtern heraus. Wieviel Freude ist so ein Tag, wenn er allein dasteht inmitten der Arbeit wie ein einzelner toter Baum auf einem Winterberg?

KATRIN


Steck mal die Lichterkette in die Steckdose. Ihr bunter Schein wird dich trösten. Und ist es nicht der bunte Schein der Lichterkette, so doch die Aufgabe, die ich dir gebe, die dich ablenken wird von deinem Herzen mit den Gedanken darin.

ALEXANDER


Mein Trübsal tröstet sich nicht an einem Tag. Ich brauche mehr als eine bunte Lichterkette, mehr als einen freien Tag. Und welcher Art soll die Beschäftigung sein, damit sie mich vergessen lässt, dass die Beschäftigung nur Ablenkung ist.

KATRIN


Du bist ein Gefangener der Erde und greifst nach den Sternen. Was wird dich trösten? Was ist es, was dich an all diesen Fragen kranken lässt?

ALEXANDER


Ich habe vergessen, worin ich Trost finden kann. Meine Erinnerungen sind das Fließband herunter gefahren, das Fließband, dem wir unser Leben hingeben. Nur das Fragen ist mir geblieben. Woher es kommt, ich weiß es nicht. Was nützen mir die Fragen, wenn ich keine Antworten haben darf?

KATRIN


Wir haben einen freien Tag und du zerbrichst dir das Herz. Lass das sein. Was du deinem Herzen zumutest. Wie lange kann es dich noch ertragen?

ALEXANDER


Es ist der einzige Tag im Jahr, an dem ich Zeit habe, mit meinen Händen, die an mir hängen und mir nicht gehören, es ist der einzige Tag, an dem ich mit diesen fremden Händen nach meinem zerbrochenen Herzen greifen kann. Mancher Fetzen Herz ist schon im All verloren.

KATRIN


Ja, mit jedem Jahr wird unser Herz kleiner. Mit jedem Fetzen Herz, den wir verlieren, gehen wir von der Erde. Die Herzen, sie gehören uns nicht.

ALEXANDER


Die Versenkung meines Herzens. Ich nenne es die Versenkung meines Herzens.

KATRIN


Nenne es, wie du willst. Es bleibt, was es ist, die Welt, ein Herzensbrecher. Steck die Lichterkette in die Steckdose. Sie wird den Blick auf dein versenktes Herz freigeben, auf das Loch, durch das du schaust.

Pause

KATRIN


Was starrst du so in die Lichterkette?

ALEXANDER


Ich versuche mich zu erinnern.

KATRIN


An was willst du dich erinnern?

ALEXANDER


Wüsste ich, woran ich mich erinnern wollte, ich bräuchte mich nicht erinnern. Ich schaue in die Lichterkette und hoffe auf eine Erinnerung, irgendeine Erinnerung.

KATRIN


Und?

ALEXANDER


Nichts. Nur die Erinnerung an das letzte Jahr, als ich vor der Lichterkette saß und mich erinnerte an das Jahr zuvor, als ich vor der Lichterkette saß. Als schaute ich in einen Spiegel in einen Spiegel.

KATRIN


Und wenn nachher die Kinder kommen, wirst du dich erinnern daran, was ich dir jetzt sage; heute ist Weihnachten und es ist ein schöner Tag und du hilfst mir dabei, dass es auch ein schöner Tag wird. Glauben wir fest an diese Lüge, so machen wir sie zu unserer Wahrheit.

ALEXANDER


Die Kinder?

KATRIN


An unsere Kinder wirst du dich wohl noch erinnern.

ALEXANDER


Und du? Erinnerst du dich an unsere Kinder? Woher weißt du, dass sie unsere Kinder sind? Woher wissen sie, dass wir ihre Eltern sind? Wir sehen uns einmal im Jahr. Es vergisst sich viel in einem Jahr und es erinnert sich wenig an nur einem Tag.

KATRIN


Sie sind unsere Kinder. Es sind die Kinder, die jedes Jahr zu uns kommen. Es werden wohl die selben Kinder sein.

ALEXANDER


Nur durch sie weiß ich, dass Zeit vergeht. Wie wird es sein, wenn sie einmal Erwachsene sind, so wie wir? Wenn sich endgültig nichts mehr verändert, wenn die Welt um uns herum still steht, wenn nur noch das Fließband sich an uns vorbeischiebt?

Katrin und Alexander sitzen am gedeckten Weihnachtstisch. Sie sprechen nicht mit einander. Stundenlang.

ALEXANDER


Es gibt keine Vögel mehr. Keine Lieder. Man kann nichts hören.

KATRIN


Woher willst du das wissen?

ALEXANDER


Ich war in der Stadt. Keine Vögel. Keine Bäume. Kein Wind. Nichts. Die Stadt, sie war wie blind.

KATRIN


Du bist in der Stadt gewesen? Wenn dich jemand gesehen hat. Bist du wahnsinnig. Niemand darf in die Stadt gehen.

ALEXANDER


Ich kam mir vor, wie der letzte Mensch auf dieser Welt. Es war schön, so zu stehen, und zu warten, dass irgendwas passiert. Ich habe jemanden gesehen. Zwei Männer habe ich gesehen.

KATRIN


Haben sie dich gesehen?

ALEXANDER


Ich weiß nicht, ob sie mich gesehen haben. Es ist schon ein paar Wochen her, dass ich in der Stadt war.

KATRIN


Hoffentlich hat dich niemand gesehen.

ALEXANDER


Was ist, wenn wir nicht allein mit unseren Fragen sind? Lass uns auf die Straße gehen und die anderen Menschen suchen.

KATRIN


Wir gehen nirgendwo hin und wir stellen auch keine Fragen. Ich will ein Leben haben und es nicht Hieron vor die Füße schmeißen. Wir gehen arbeiten und feiern Weihnachten, mehr werden wir nicht tun. Was ist daran so schlimm?

Es klingelt an der Wohnungstür.

KATRIN


Das sind die Kinder. Kein Wort von deinem Ausflug in die Stadt.

ALEXANDER


Es sind immer die Kinder. Wie jedes Jahr.

III.

Hieron und Simonides schauen auf die Bild-schirme um sie herum. Auf denen sehen sie das Volk arbeiten. (Der Blick auf Hierons Arbeiter-volk sollte nicht zu kurz geraten. Es darf nicht unterschätzt werden, wie sehenswert arbeitende Menschen sind. Ich schlage vor, Hieron und Simonides mindestens einen halben Arbeitstag auf die Bildschirme starren zu lassen.)

HIERON
Langweilige Menschen
Immer arbeiten sie
Ich wünschte
Mir wäre nicht so langweilig
Andere Menschen
Das wäre schön
Menschen
Ohne Arbeit

SIMONIDES
Wären
Sie Menschen
Ohne Arbeit
Sie hätten
Kein Volk
Über das Sie
Herrschten

HIERON
Ich werde immer
Ein Volk haben
Über welches
Ich herrschen werde
Irgendjemand wird
Sich immer finden lassen
Und wenn du es bist
Simonides
Gegen dessen Leben
Ich siegreich
Zu Felde ziehen
Werde

SIMONIDES
Hieron
Allmächtiger
Ich bin Ihr Diener
Bis zu meinem
Letzten Atemzug

HIERON
Simonides
Du hast wohl auch keine Idee
Wie ich meine Langeweile
Besiegen kann

SIMONIDES
Was kann heute Ihre
Langeweile besiegen
Was Ihre Langeweile
Schon gestern nicht besiegt hat

HIERON
Ah
Dem Simonides
Ist heute wieder
Nach kluger Rede

SIMONIDES
Machte ich mich dümmer
Sie könnten mich kaum
Gebrauchen

HIERON
Du hast Recht
Wozu einen klugen
Menschen dumm scheinen lassen
Klug ist er schon
Schwer genug
Zu ertragen

SIMONIDES
Bald sind die
Hinrichtungen
Das wird Sie aufmuntern

HIERON
Mich muntert keine
Hinrichtung mehr auf
Ich habe derer
Unzählige gesehen
Ich kann eine
Von der anderen
Nicht unterscheiden

SIMONIDES
Wir könnten die
Hinrichtungen
Aussetzen
Das Volk
Wäre dankbar
Das Volk wäre
Größer

HIERON
Du willst mich
Wohl von meinem Throne
Stürzen
Die Tage der Barmherzigkeit
Liegen weit hinter uns

SIMONIDES
Die Menschen
Die Sie töten
Regieren
Sie nicht mehr

HIERON
Simonides
Du irrst
Es sind gerade
Die Toten
Die mir beim Regieren
Am nützlichsten sind

Pause

HIERON
Und wenn ich einen
Aufstand gegen mich wage
Einen Aufstand
Den ich niederschlage
Was wäre das für ein Spaß
Eine Schlacht am eigenen Volk
Aus welcher ich
Als Sieger hervorgehe

SIMONIDES
Wenn Sie den
Aufstand nicht niederschlagen
Sondern der
Aufstand gelingt

HIERON
Simonides
Du hast Recht
Leider ist es zu riskant
Dem Volk kann ich nicht trauen
Mir ist kein Vergnügen
Vergönnt
Setze sich einer
Auf meinen Thron
Und habe Spaß daran

SIMONIDES
Und die Dankbarkeit
Bleibt aus

HIERON
Wieder wahr
Ich schütze das Volk
Ich bin das Volk
Die Dankbarkeit bleibt aus
Wenn ich nur einen
Krieg noch führen könnte
Irgendeinen Krieg
Der sich gewinnen ließe

SIMONIDES
Alle Schlachten sind
Geschlagen
Die Welt ein Frieden
Sie der Sieger
Über alle Kriege
Über alle Völker

HIERON
Dieser Frieden
Dieser Wohlstand
Es ist schrecklich
Und immer wieder
Die Produktivität
Schöne Welt
Die ich erschaffen habe
Die Welt ist
Grausam zu mir
Der Mensch
Gibt
Sich so leicht
Zufrieden

SIMONIDES
Der Einsichten gibt es
Leider nie genug
Ist man an einer Stelle
Einsichtig geworden
So an einer anderen
Wiederum blind

HIERON
Wozu brauche ich Einsichten
Ich bin der Allmächtige
Ich brauche keine Augen

SIMONIDES
Ja
Wenn Blindheit eine
Tugend wäre

HIERON
Welche Welt habe ich
Erschaffen
Die seinen Herrscher
Nicht mehr braucht

SIMONIDES
Ist es nicht
Ihr Verdienst
Dass die Menschen
Sich selbst beherrschen
Indem sie arbeiten

HIERON
Alles ist mein Verdienst
Aber es ist deine
Schuld
Du bist mein Berater
Ich will nicht
Länger allein sein
Die Langeweile
Bringt mich um
Den Verstand
Ich will
Mein Volk sehen
Mein Volk soll
Mich sehen

SIMONIDES
Hieron
Allmächtiger
So sieht man Sie
So menschlich
Man wird an Ihrer
Macht zweifeln
Müssen

HIERON
Meine
Größe
Ist nicht groß
Genug

SIMONIDES
Ihre Macht ist
Größer als ein Mensch
So ein Mensch
Das ist nur
Ein Körper
Was hat der
Schon zu bedeuten

HIERON
Ich kann nicht
Den ganzen Tag
Auf diese Bildschirme starren
Den Menschen
Bei ihrer Arbeit zuschauen
Ich soll der Produktivität
Auf die Finger schauen
Und daran glücklich werden
Sie machen alle das Selbe
Einer sieht aus
Wie der Andere
Wer ist wer

SIMONIDES
In ein paar
Monaten
Wird Weihnachten sein
Die leuchtenden Bäume
Die Kinder bei ihren Familien
Das wird Sie
Aufmuntern

HIERON
Aufmunterung für einen Tag
Nur einen Tag
Der Blick in die
Familien
Sie werden wieder
Nur Augen
Für sich haben
Werden ihre Kinder
In den fremden Augen suchen
Werden sich trotzdem
In den Armen liegen
Werden nicht allein sein

SIMONIDES
Es ist verboten
Sich in den Armen zu liegen
Sich zu berühren

HIERON
Ich weiß
Dass es verboten ist
Sich zu berühren
Sie werden es trotzdem tun
In Gedanken
In ihren Augen werde
Ich die Umarmungen
Die Berührungen
Sehen
Ihre Sehnsucht
Ihr Glück
Beisammen zu sein
Wie soll da einer
Wie ich
Glücklich werden

IV.

KATRIN


Kinder, wie schmeckt es euch?

MAGDA


Mutter, es schmeckt gut. Jedes Jahr schmeckt es gut.

ALEXANDER


Ja, Katrin, wer jedes Jahr das gleiche Essen zubereitet, von dem darf man auch erwarten, dass es gelingen möge.

KATRIN


Yuri, was ist mit dir? Schmeckt dir die Ente?

YURI


---

ALEXANDER


Aus dem Jungen kommt seit Jahren kein Ton heraus. Da müsstest du schon sonstwas auf den Tisch zaubern, damit der Junge zu sprechen beginnt.

KATRIN


Aber es gibt nur diese Ente für uns.

ALEXANDER


Die Knödel und das Rotkraut wollen wir nicht vergessen. Es soll uns nicht schlechter gehen, als es erlaubt ist.

MAGDA


Immerhin schneit es. Wer hätte gedacht, dass Hieron uns mit Schnee dieses Jahr beschenkt. Die Produktivität muss gewaltig sein.

KATRIN


Yuri, was würde ich geben, deine Stimme zu hören.

ALEXANDER


Ja, was würdest du geben, was du nicht schon gegeben hast? Es würde mich interessieren, wie er denkt, ob er so denkt wie du oder ob er denkt wie ich. Davon hängt doch einiges ab.

YURI


---

KATRIN


Magda, was macht die Arbeit?

ALEXANDER


Katrin, es ist Weihnachten und du redest von Arbeit. Warum kannst du nicht einfach nicht über die Arbeit reden?

KATRIN


Wir müssen über die Arbeit reden. Das weißt du genau. Über was sollen wir sonst reden, wenn nicht über die Arbeit?

ALEXANDER


Mach es so wie unser Sohn. Es ist ein Wunder, dass Hieron das Schweigen noch nicht verboten hat.

KATRIN


Und wenn der Junge nicht schweigt, sondern einfach nichts mehr zu sagen hat, weil er schon ganz seine Arbeit geworden ist, wenn er ein Kind Hierons geworden ist.

ALEXANDER


So lange er nicht spricht, werden wir es nicht erfahren.

KATRIN


Hieron hat unser Leben zur Arbeit gemacht. Hieron hat uns von unserem Leben befreit. Willst du wieder hungern oder dursten? Willst du Kriege führen? Unsere Produktivität ist unser Frieden.

YURI


---

Pause

MAGDA


Eltern, ich muss euch etwas sagen. Ich werde hingerichtet.

YURI


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ALEXANDER


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MAGDA


Ich werde am 1. des kommenden Monats hingerichtet.

KATRIN


Du wirst hingerichtet.

ALEXANDER


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KATRIN


Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.

ALEXANDER


Doch, du weißt immer, was du sagen sollst. Kannst du nicht einfach den Mund halten.

KATRIN


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YURI


---

MAGDA


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ALEXANDER


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Pause

MAGDA


Meine Arbeit gibt es nicht mehr. Ich werde nicht mehr gebraucht. Ich werde sterben so wie Millionen anderer Menschen vor mir an ihrer Arbeitslosigkeit gestorben sind.

ALEXANDER


Warum kann es keinen anderen Lebenssinn als die Arbeit geben? Die Hinrichtungen der Arbeitslosen bringen mich um den Verstand.

KATRIN


Wir müssen jetzt das Familienfoto machen.

YURI


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ALEXANDER


Ich will diese Familienfotos nicht mehr machen. Es gibt Millionen andere Familien, die Hieron ihre Arbeiterfratzen hinhalten. Die Produktivität richtet unser Kind hin und du willst noch ein Familienfoto machen. Siehst du nicht, woraus dein Leben besteht?

KATRIN


Mein Leben ist die Arbeit. Was soll mein Leben anderes sein?

MAGDA


Vater, komm, wir machen das Foto. Was nützt es, wenn wir alle hingerichtet werden, weil wir das Familienfoto nicht gemacht haben? Es soll genügen, wenn ich der Produktivität geopfert werde.

KATRIN


Ich mache das Foto. Es ist mir egal, ob ihr euch dazustellt oder nicht. Ich möchte nicht sterben.

ALEXANDER


Du machst alles, damit du auf dieser Welt bleiben darfst, so sehr bist du schon ihre Bewohnerin geworden. Mir ist beinahe, als seiest du Hieron selbst. Auch du wirst sterben eines Tages.

KATRIN


Eines Tages, ja, aber nicht heute.

MAGDA


Vater, komm. Bitte. Für mich ist der Tod weniger Tod, wenn ihr weiterleben könnt. Ich will nicht, dass ihr neben mir steht, wenn Hierons Kugeln mir das Leben nehmen.

ALEXANDER


Und für mich ist das Leben weniger Leben, wenn du sterben musst. Ich will sterben so wie du. Und Yuri, der redet nicht. Der ist auch wie tot.

MAGDA


Yuri ist so ein lieber Junge. Der hat den Tod nicht verdient.

ALEXANDER


Doch, wir haben alle den Tod verdient, weil wir uns das Leben nicht verdienen wollen. Jeden Tag rennen wir zur Arbeit, rennen nach Hause, rennen zur Arbeit, hin und her, bis der Tod uns holen kommt. Und Yuri, der sagt nichts. Was ist mit ihm? Hat er noch Sprache? Hat er noch Gedanken? Ist er schon zur Arbeit geworden, an der wir uns verschleißen?

YURI


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MAGDA


Bitte, Vater, machen wir das Foto.

ALEXANDER


Sag endlich was, Junge. Ich will wissen, was du denkst. Bist du so wie ich oder bist du so wie deine Mutter? Ich will das wissen. Lass uns nicht ohne Hoffnung.

KATRIN


Kommt jetzt. Nur noch ein paar Sekunden. Das Foto kommt gleich.

YURI


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Die Familie stellt sich auf die Markierung, schaut in eine der vielen Kameras, die in ihrer Wohnung montiert sind, alle lächeln, es blitzt.

KATRIN


Das war das Foto. Muss man sich mal vorstellen. Überall auf der Welt hat es jetzt geblitzt. Jetzt das Dessert.

ALEXANDER


Wir sind Tote im Leben. Wozu dieses Theater, wenn es doch keinen Ausweg gibt? Weshalb dieses Leben, wenn es uns nicht gefällt? Wieso halten wir daran fest?

KATRIN


Und diese Fragen, die wir nicht beantworten können, weil die Welt keinen Sinn für uns bereit hält. Leben heißt, ohne Antworten, ohne Sinn in den Tod gehen. Hör auf, diese Fragen zu stellen. Sie machen uns nur unglücklich.

ALEXANDER


Wie klug du plötzlich sein kannst, da es dir ums Leben geht. Ist der Tod die Antwort auf dein Leben? Ist der Tod deine Ausrede? Willst du wirklicht ohne Sinn in den Tod gehen?

KATRIN


Nicht der Tod ist die Antwort. Der Weg dorthin ist die Antwort, der Weg dorthin mit all den Fragen. Ich meine den Tod, der ohne Hilfe zu uns kommt, der zu uns kommt und uns mit unseren Fragen zusammen zu sich holt. Der Weg ist der Sinn. Der Weg ist Arbeit.

ALEXANDER


Diese Welt ohne Zeit, ohne Raum, kein Tag, keine Nacht, alles ist Arbeit an der Produktivität. Weißt du, wie schön der Himmel aussieht?

KATRIN


Das Schönste an unserem Leben ist der Tod. Er ist die Antwort auf unsere Fragen.

ALEXANDER


Du machst es dir einfach, wenn du den Tod ans Ende deiner Fragen setzt.

KATRIN


Wir sind dem Leben ausgeliefert. Wir sind die Untertanen des Lebens. Wir können es nicht ändern. Die Verheißungen sind wahr geworden. Frieden und Wohlstand auf der Erde. Es ist nicht mehr wichtig, wie dieses Versprechen eingelöst wird. Das Paradies ist Antwort genug.

YURI


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ALEXANDER


Können wir das Leben nicht selbst wählen? Wer macht die Welt, deren Untertan wir sind?

KATRIN


Diese Welt hat der Mensch gemacht und du bist einer von ihnen. Du kannst die Welt nicht verstehen. Die Welt versteht dich. Hättest du die Welt erfunden, hättest du sie geschaffen, du könntest sie verstehen. Aber nicht der Mensch hat die Welt erfunden. Die Welt hat den Menschen erfunden.

ALEXANDER


Hieron hat die Welt zerstört und du klatschst Beifall. Wer bist du? Bist du eine Gehilfin Hierons?

KATRIN


Hieron gibt uns Arbeit. Hieron gibt uns Leben. Wer ich bin? Ich bin ein Kind dieser Welt.

ALEXANDER


Hieron nimmt das Leben deiner Tochter.

KATRIN


Das ist, was ich meinte, als ich sagte, wir sind des Lebens Untertan. Erst der Tod wird uns befreien von den ewigen Fragen. Der Tod meiner Tochter für das Leben dieser Welt. Das ist es wert.

MAGDA


Hört auf damit! Es nützt nichts. Ihr habt beide Recht. Vater, deine Fragen sind die richtigen, und Mutter, deine Antworten sind die einzigen. Ich werde am 1. des kommenden Monats hingerichtet. Dagegen lässt sich nichts sagen. Wenn euer Glück von meinem Tod abhängt, so werde ich sterben. Die Produktivität ist wichtiger als unser Leben.

ALEXANDER


Ich werde nicht kommen.

KATRIN


Du musst kommen. Es besteht Anwesenheitspflicht.

MAGDA


Ja, Vater, du musst kommen. Ich möchte, dass du lebst.

ALEXANDER


Magda, ich will dich nicht sterben sehen. Yuri, mach endlich deinen Mund auf. Sprich zu uns. Ich will wissen, was du denkst.

YURI


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Der vorliegende Auszug aus Hieron - Vollkommene Welt erscheint mit freundlicher Erlaubnis der Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs GmbH.