Das Magazin »Utopie« wagt das Unmögliche. Nun gibt es einen dazugehörigen Denkraum im Prenzlauer Berg

nd
Von Kathrin Gerlof
15.02.2017
ND Kultur
   

Die Gegenwart hat uns im Griff



Als 2015 die erste Ausgabe von »Utopie - Magazin für Sinn & Verstand« erschien, konnten erst einmal nur vier Dinge dazu animieren, sich die Lektüre anzutun: die fast durchweg fremden Autorennamen (alles Männer, dazu ist noch etwas zu sagen), die auffallend schöne Gestaltung rund um sehr, sehr viel Text, der Mut, sich selbst ans Ende des Heftes zu stellen mit einem Nachruf auf das tote Genre »Editorial« und die Verrücktheit, so etwas überhaupt probieren zu wollen, eine neue Zeitschrift, wo wir doch erschlagen werden mit Titeln, die in einer Bahnhofsbuchhandlung inzwischen ob ihrer Menge die seltsamsten Symbiosen eingehen (unten »Hobby und Basteln«, darüber »Erotik«, so dass Mann sich nicht schämen muss, hier lange zu verweilen, wenn er es nur hinbekommt, diskret den Kopf in den Nacken zu legen und einen Blick auf silikongefüllte Brüste und mehr oder weniger schlechte Photoshop-Arbeiten zu werfen).

Wie kann man es nur wagen, noch eine Zeitschrift zu machen, die dann auch noch verlangt, dass man mehr denkt und innehält, als unseren informationsüberfluteten Hirnen gut zu tun scheint? »Der Kampf selbst ist bereits unmittelbar Befreiung« stand auf der Rückseite des ersten Heftes - Layouter und Drucker nennen sie »U4«, normalerweise gehört hier Werbung hin, denn von irgendwoher muss die Kohle ja kommen. Womit wir wieder bei der Verrücktheit wären. Es gibt kein Geld für dieses Magazin, das unter einer Creative-Commons-Lizenz erscheint und auf dessen Webseite die Texte, die im Blatt zu haben sind, stehen und beliebig heruntergeladen und weiterverbreitet werden können. Wozu dann noch Papier kaufen, ist die erste Frage, die sich der geübte Konsument der Moderne - die Konsumentin auch - stellt. Und schon sitzen wir in der Falle, die uns jeden Tag in verschiedenster Form gestellt wird und nicht auslässt, uns auch dann zu Schnäppchenjägern zu machen, wenn es um geistige, kulturelle Genüsse geht. »Wenn’s umsonst ist, ess ich warm«, hat Miss Piggy aus der Muppet-Show gesagt, und so leben wir ja, und gar nicht mal schlecht in diesen Breiten. Wenn’s umsonst ist, lade ich’s herunter, anstatt ein Heft zu kaufen.

Camilla Elle, eine junge, kluge Frau, der noch keinerlei Ernüchterung ob der Zeitläufte anzumerken ist, sagt: »Ich habe mich mit der Idee für die ›Utopie‹ 2014 auf die Suche nach Mitstreiterinnen und Mitstreitern gemacht. Nach langer Suche bin ich durch einen Artikel auf Júlio do Carmo Gomes gestoßen. Mit ihm begann das Projekt, und es schien uns unaufhaltsam zu sein.« Gomes ist ein Mann der Erfahrung und des Geistes. In Porto (Portugal) eröffnete der Journalist und Autor mit dem »Gato Vadio« eine Buchhandlung, die zugleich ein Raum für soziale Intervention sein sollte und wurde. Er ist Mitbegründer des Verlages 7 Nós und organisiert die Jornadas da Soda Caústica, eine internationale Konferenzreihe zu Theorie und Praxis emanzipatorischer und partizipativer Politik.

Nichts weniger als die internationale Diskussion über Diskursgrenzen hinweg hatte sich auch das Magazin zum Ziel gesetzt. Die Beteiligung von Steffi Klein, Malen Zapata, Hans-Georg Reimer und Leo Wolf ermöglichte die Umsetzung. Sie alle wollten nichts mehr, als dass es auch in Deutschland gelingen möge. So ist das Magazin »Utopie« in die Welt gekommen - die erste Ausgabe 2015, die zweite Ende 2016. Beigetragen haben dazu auch die Abonnentinnen und Abonnenten, mit deren Geld die Produktionskosten der zweiten Ausgabe bezahlt werden konnten. Und mit der zweiten Ausgabe schaffte man es auch, ein durch die erste entstandenes Defizit auszuräumen.

In ihr sind ebenfalls Texte - klug und schön - von Frauen enthalten, so etwa der von Marianne Gronemeyer über die Frage, wie viel Arbeit der Mensch braucht. Kathi Weeks schreibt über das Problem mit der Arbeit, Feminismus, Marxismus, Anti-Arbeitspolitik und Post-Arbeitsvorstellungen, und Montserrat Galceran denkt über »Wunsch und Freiheit« nach. Es sind immer noch viel mehr Kerle als Weiber, aber die Entwicklung ist erkennbar.

Beide Ausgaben versammeln Texte, von denen sich die meisten durch eine große Sprachgewalt - oder nennen wir es sprachliche Virtuosität - auszeichnen. Beide trauen sich, der Poetik Raum zu geben, den verschiedenen Formaten, der sachlichen Bestandsaufnahme wie der Fiktionalisierung. Beide befassen sich kritisch mit den Mythen der Gegenwart, die das kapitalistische Projekt retten sollen: mit den technischen Wissenschaften, die uns eine smarte Zukunft versprechen, den Medien, die uns auf eine Aufmerksamkeitsspanne von anderthalb Minuten trimmen, dem vermeintlichen Rationalismus, der uns suggeriert, dass es zum Kapitalismus keine Alternative gibt, dem Liberalismus der Linken, dessen Vorschläge Ermüdung atmen und Radikalität vermissen lassen, dem Fortschrittsglauben, dem die Roboterisierung des Denkens innewohnt, der Wachstumsapologetik, die uns glauben macht, dieser Planet ließe sich unendlich oft klonen, der Kolonialisierung unserer Vorstellungskräfte, den Heilsversprechen der Leistungsgesellschaft, deren Stress wir durch Konsum zu kompensieren bemüht sind.

»Wir versuchen, einige Mausefallen, in denen die postmarxistische Linke gefangen ist, zu zerlegen und der überflüssigen Unfruchtbarkeit, mit der sich manche Strömungen des Anarchismus bewegen, einen Stoß zu versetzen.« Camille Elle und all die anderen, die sich um das Magazin und - dazu gleich - den »Denkraum« versammeln, sind nicht willens, das mögliche Scheitern eines solchen Projekts vorwegzunehmen. Das Magazin versammelt Autorinnen und Autoren aus sechs Sprachen, und gewollt ist, das deutsche Gespräch über Utopien und Dystopien zu bereichern, damit »die Augen sich nicht an die mediale Dunkelheit der Wohlstandsgesellschaft gewöhnen«. Der Sprache des Gedruckten und des Gesagten wohnt - und das ist gewöhnungsbedürftig - eine gewisse Überdrehtheit inne. Eine gute Überdrehtheit, die den Worthülsen, mit denen wir alltäglich konfrontiert sind und die unsere Hirne erweichen, etwas entgegensetzt. Auch dann, wenn man sie überzogen, nicht zeitgemäß, nicht »sachlich« genug findet. Aber was ist Sachlichkeit im sogenannten postfaktischen Zeitalter? Im Zweifelsfall die Lüge, die als substantiviertes Argument daherkommt.

Nun gibt es seit Januar 2017 einen »Denkraum« zum Magazin. In die Nähe des S-Bahnhofs Schönhauser Allee ist die Buchhandlung »Amarcord« gezogen, die zugleich Diskussions- und Veranstaltungsort sein wird. Da könnte man erneut fragen: Ein Buchladen in dieser Zeit, da Amazon und andere den Leseorten den Garaus machen wollen, wer kommt denn auf eine solche Idee?

»Ja, wir werden Bücher verkaufen. Wir gehen davon aus, dass sich durch unsere Ausrichtung und die dem Denken zugeneigte Leserschaft der Laden finanziert. Wir werden Veranstaltungen machen - Poesieabende, Workshops, Lesungen, Diskussionen, wir sind offen für jede Art von Beteiligung. Damit materialisiert sich das Anliegen des Magazins, da wir nun einen Ort für Intervention, Widerstand und Wiederherstellung der Vorstellungskräfte haben.«

Das Magazin ergebe betriebswirtschaftlich überhaupt keinen Sinn, sagt Camilla Elle. Deshalb sei es frei. Es entstehe allein aus Leidenschaft, und man habe vor, diese Arbeitsweise beizubehalten.

»Die Straße erwartet uns. Der Rest ist der Staub von Doktorarbeiten, sozialdemokratischer Ideologie oder Fantasie der Reinen.« Das ist - verdammt noch mal - verrückt. Aber eben kein Kapitalismus. Und deshalb wäre es gut, wenn es funktioniert.