OBSOLESZENZ UND TUGEND DER UTOPIE

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Ilustración: Martina Liebig

Übersetzung: Andrea Lauckner

Die Kritik an der industriellen Welt und vor allem die Kritik am Stellenwert der Technologie in unserer modernen Gesellschaft haben uns parallel dahin geführt, sowohl eine Kritik der Fortschrittslehre zu entwickeln, wie sie in der Vorstellung verschiedener sozialistischer Utopien tief verwurzelt ist, als auch zu verstehen, inwieweit diese schmeichlerische Fortschrittslehre der Wissenschaft und der industrielle Überfluss auf eine Metaphysik hindeuten. Sowohl die Wichtigkeit der ökologischen Analyse,¹ als auch die schrecklichen Vorgänge, die wir heutzutage erleben, führten dazu, dass man überhaupt darauf aufmerksam machen konnte, dass diese kindlichen Träume vom Überfluss, von demokratisch verteilten und raffinierten Technologien, sowie vom Ende der Arbeit schlichtweg keine materielle Grundlage haben. Aber es machte sich noch eine subjektivere Abneigung gegen diese Art von Träumen in uns breit: Welches Menschenbild und welche Freiheitsvorstellungen verstecken sich wohl hinter solchen Utopien? Und darüber hinaus: Welches Menschenbild und welche Vorstellungen von Freiheit müssten stattdessen verteidigt werden?

Die fortschrittliche Utopie des Arbeitersozialismus (marxistisch und anarchistisch) beruhte auf einem positiven Ansehen der (industriellen) Produktivkräfte und das Ausmaß der Emanzipation beschränkte sich auf die Wiederaneignung dieser Kräfte durch die Macht der Arbeiter. Somit konnte die im Schoße des Proletariats liegende Selbstverwaltung – gefangen zwischen dem autoritären Zentralismus (Lenin) und dem industriellen Lokalpatriotismus (Kropotkin und Bookchin) – aufgrund der Unmöglichkeit der kollektiven Wiederaneignung (in dem Sinne, in dem dieser Terminus eine greifbare demokratische Realität konnotiert) als Emanzipation nichts anderes als Scheitern an der Maßlosigkeit der industriellen Kräfte und dem fundamentalen Widerspruch zwischen der Entwicklung dieser und den Bedingungen des Lebens auf der Erde. Die Schwierigkeit beschränkte sich nicht nur darauf, eine Fabrik oder das Schienennetz zu leiten oder selbst zu verwalten. Sie bestand vielmehr darin, sich der Probleme klar zu werden, die es für die menschliche Gemeinschaft, sowohl in ihrer Menge als auch in ihrer Singularität bedeutete, eine vollständig neue Bedürfniskette zu akzeptieren. Die Massenproduktion von Waren oder die Nutzung von Energiequellen auf industriellem Niveau ohne Murren zu akzeptieren, war sicher nicht der beste erste Schritt, um das Projekt der sozialen Emanzipation in Angriff zu nehmen.

Diese Uniformität der Lebensformen², die das soziale Ideal beinhaltet, wurde allerdings zu selten in Frage gestellt. Es war notwendig, sich zunächst an konservative und sogar als reaktionär angesehene Autoren zu halten, um bei ihnen all den Horror und das Absurde ausfindig zu machen. In La France contre les robots³ warnte uns Bernanos bereits: „Die Invasion der Maschinerie hat diese Gesellschaft überraschend übernommen” und wies darauf hin, dass diese Invasion eine Art Totalitarismus implementiert, in dem die Grundsätze der Technik alle anderen besiegen würden. Während die Sichtweise von Bernanos jedoch durch die Erfahrung des Krieges und des faschistischen und stalinistischen Totalitarismus geprägt war, stand Santiago Araúz de Robles – der uns im zeitlichen Kontext näher, im Kontext der kulturellen Desertifikation des ländlichen Spaniens der Nachkriegszeit jedoch weiter entfernt ist – ihm in nichts darin nach, ein Urteil über die moderne und insbesondere die städtische Gesellschaft zu fällen&sup4;. Seine Studie über die ländliche Kultur, die er als Gegensatz zur städtischen Gesellschaft verstand, beruhte auf einem intuitiven Verständnis von dem positiven Beitrag dieser Kultur zur Menschheitsgeschichte. Wir teilen seinen Ausgangspunkt, wenn er sagt: „Die Erforschung der Charakteristiken einer Zivilisation oder ihrer kulturellen Stile, die unseren so diametral entgegen stehen, kann eine interessante Erfahrung bedeuten. Sie führt zumindest dazu, eine andere Möglichkeit kennenzulernen – eine Möglichkeit, die zweifelsohne ebenso ihre Defizite haben würde, aber dazu beitragen könnte, den Fatalismus zu vermeiden, der uns den eingeschlagenen Weg für den einzigen halten lässt.”

Eine solche Haltung würde jedoch unvermeidlich Kritik, Sarkasmus und Unverständnis hervorrufen. Obwohl wir stets bestritten haben, die Vergangenheit zu idealisieren oder eine Art goldene Ära&sup5; befördern zu wollen, wurden wir wie bloße Liebhaber einer idealisierten, ländlichen Vergangenheit behandelt. Wie reaktionäre Apologeten eines bäuerlichen Lebens. Wie dem auch sei, es verblieben zweifelsohne Unklarheiten, die sich aufklären lassen:

1. Die Vergangenheit zu retten, bedeutete sich zu widersetzen. Sich einerseits einer Idealisierung der Gegenwart (sichtbar bei vielen Linken und Liberalen), bei der das Versprechen der Technologie an erster Stelle steht, zu widersetzen. Andererseits bedeutete es auch, sich der sozialistischen Fortschrittslehre (marxistisch und anarchistisch) zu widersetzen. Einer Fortschrittslehre, deren metaphysischer Charakter nicht gerne gesehen wird und deren Betonung auf der Arbeiterklasse und der urbanen Kultur lag (mit Ausnahme von Bakunin und einer wichtigen anarchistischen Bewegung&sup6;) und die dem Bauernstand eine untergeordnete, wenn nicht gar reaktionäre Rolle in der Geschichte zugewiesen hat.

2. Bei unserem Versuch, die sowohl von Liberalen als auch Sozialisten (oft einseitig) vorgenommene Interpretation der ländlichen Geschichte zu erneuern, haben wir bewusst die „positiven” Aspekte betont. Denn das Land hatte eine wertvolle Geschichte: Vom Widerstand gegenüber der Macht über die Kreativität der sozialen Organisation bis hin zum Wissen über die Natur. Vor allem aber eröffneten die ländlichen Kulturen Raum für utopische Vorstellungen hinsichtlich eines Lebens im Einklang mit der Natur (wenn auch nicht frei von Katastrophen), da sie bereits viele Praktiken aufboten, um diesen Einklang herzustellen. Um es mit einem Satz zu sagen: Die materielle Grundlage der Utopie musste sich zu einem großen Teil im ländlichen Leben herausbilden.

3. Die Interpretation der ländlichen Kultur war niemals Gegenstand eines monolithischen Abkommens zwischen den Mitgliedern von „Los Amigos de Ludd”. Vielmehr hat sie Raum für intensive interne Debatten geschaffen und vielleicht war es unser Fehler, diese interne Diskussion nicht öffentlich zu machen. Wir bevorzugten es im Gegenteil, den einzelnen Personen eine gewisse Freiheit zu lassen. Jeder konnte schreiben oder Positionen in den Gesprächsrunden vertreten, ohne dass die anderen Mitglieder diese vollständig übernehmen mussten. Dies war insofern ein Fehler, da es einige Verwirrung in unserem Diskurs stiftete. Auf der anderen Seite war es jedoch ein Erfolg, da es Kontroversen in einem Umfeld erzeugte, das ohnehin üblicherweise zu ideologischen Argumenten (nebenbei gesagt fortschrittsgläubiger Prägung) neigt.

Weshalb also die Vergangenheit und die Referenz zur ländlichen Welt weiterhin thematisieren? Räumen wir mit den Missverständnissen auf. Als wir beispielsweise in unserem Pamphlet über den Vorfall von Guadalajara&sup7; schrieben: „Wie kann man den Respekt gegenüber der natürlichen Umgebung mit einer lokalen Wirtschaft, die den Konsum eigener sowie fremder Ressourcen beschränkt, die weder von fremder Politik beeinflusst wird, noch entfremdet ist (soweit dies möglich ist), mit einem externen Markt vereinbaren?” Was diese Frage damals inspirierte, war ein Nachdenken über die Grenzen der Referenz auf die Vergangenheit der ländlichen Gesellschaft. Es scheint uns offensichtlich, dass der Respekt gegenüber der natürlichen Umgebung im Zusammenhang mit der aus ihr hervorgehenden wirtschaftlich-sozialen Verwendung steht. Als Beispiel, und wie wir es in jenem Text betonten, ist sowohl das Verlassen der ländlichen Gebiete und der Berge als auch ihre extreme Ausbeutung (Tourismus) schädlich für sie. Es ist zwar wahr, dass viele traditionelle Modelle der Nutzung natürlicher Ressourcen als Beispiel ausgeglichener Ökosysteme dienen; dabei muss man jedoch berücksichtigen, dass häufig genau diese Modelle von deutlich entfremdeten politischen und wirtschaftlichen und auf Dauer parasitären und schädlichen Machtbeziehungen belastet werden. Diese Machtverhältnisse muss eine Gesellschaft, die einem Ideal entgegenstrebt, vermeiden. Daher kann keines der in der Vergangenheit gewählten Modelle als mögliche Referenz hinzugezogen werden, ohne seine historische Entwicklung und seine Gültigkeit als mögliche ideale Referenz im Bezug auf die aktuellen Probleme detailliert analysiert zu haben. Ein solches Modell kann dazu dienen, die Wurzel der Probleme (sei es die Existenz eines externen Marktes − Luxus- oder Massensegment −, die Existenz einer parasitären Klasse, Monokulturen, die Größe menschlicher Siedlungen, Habsucht, Materialismus, Hedonismus) zu erkennen und gleichzeitig die Hauptzüge einer neuen moralischen Ökonomie zu skizzieren.

Eine ideale Gesellschaft müsste sich soweit wie möglich darüber bewusst sein, wann sie beginnt, die Schwelle gegenüber der natürlichen Umgebung (der eigenen und der fremden) als auch gegenüber der menschlichen Freiheit (der eigenen und der fremden) zu überschreiten (sie müsste also über außergewöhnliche Kenntnisse verfügen) und dementsprechend handeln. Es schien uns, als hätten gewisse Aspekte der traditionellen sozialen Organisation (wie die Nutzung von Ressourcen nach dem Gewohnheitsrecht oder demokratische Institutionen wie der offene Rat) weder Verachtung noch Vergessen verdient und wären, ohne dadurch ideal zu sein, wertvolle Fährten, um ein neues soziales den aktuellen Herausforderungen gerecht werdendes Modell zu skizzieren.

Andererseits haben wir jedoch – als sich nach und nach ein Ideal, das dem fortschrittsgläubigen Ideal diametral entgegengesetzt ist, erahnen ließ – unseren Pessimismus gegenüber einem besonderen Faktor eines möglichen sozialen Wandels niemals versteckt: Dem Menschen. Es fehlen die Männer und Frauen, die in der Lage wären, den Weg der Wiederaneignung einzuschlagen. Wir stoßen hier auf ein größeres Problem, auf das aufgeklärte Autoren wie Simone Weil oder Jacques Ellul schon zu ihrer Zeit hingewiesen haben. Die Lektüre von Simone Weil und vor allem ihres Werks Réflexions sur les causes de la liberté et de l´oppression sociale&sup8; bot uns eine erhellende Analyse, die wir an dieser Stelle verdientermaßen resümieren.

Der Mangel an revolutionärem Charakter der Individuen, die die Gesellschaft bilden, ist eine objektive Tatsache, die sich durch die Struktur der Gesellschaft selbst erklärt. Welche Faktoren der Unterdrückung liegen in der modernen Gesellschaft vor? Darauf nennt Simone Weil zuallererst das Produktionssystem. Und gleich darauf folgt die fortschrittsgläubige Ideologie, die es den Menschen verbiete, sich eine klare Vorstellung von der Freiheit zu machen.

Die kapitalistische Unterdrückung zeichnet sich wahrhaft durch die Erpressung des Mehrwerts aus, noch stärker jedoch durch die fatale Konkurrenz, der sich die Kräfte (Kapitalisten oder nicht) ergeben. Für Weil ist das Produktionssystem – die Industrie – aber die wesentliche Kraft der sozialen Unterdrückung. Mit seiner Analyse über den Einsatz von Maschinen ist es Marx, bei dem Weil die ersten Beschreibungen dieser Unterdrückung findet: Die Versklavung der lebendigen Arbeit zu einer toten, die Aufteilung und die extreme Spezialisierung der Arbeit, die sich in der Aufteilung in leitende und ausführende Kräfte reflektiert. „Da die kapitalistische Gesellschaft weit davon entfernt ist, in ihrem Schoß die materiellen Bedingungen für ein Freiheits- und Gleichheitssystem zu schaffen, verlangt dessen Einrichtung die vorherige Umwandlung der Produktion wie der Kultur”, schließt Weil.
Eine solche Sichtweise steht in eklatantem Widerspruch zur marxistischen Schule, die Marx folgend von der Annahme ausging, dass die Entwicklung der Massenproduktion (die zudem als unbegrenzt betrachtet wurde) einen Grundbestandteil des Projekts der Emanzipation darstellte. Diese Gleichung zwischen den Produktivkräften und dem sozialen Fortschritt ist die „moralische Sicherheit” des marxistischen Dogmas, die alle Verbrechen rechtfertigte, die den Tumulten der Oktoberrevolution folgten.

Wenn sie den mythologischen Charakter der marxistischen Auffassung der Produktivkräfte anprangert, meint Simone Weil hauptsächlich die fortschrittsgläubige Ideologie, die in der Arbeiterbewegung vorherrscht. Obwohl sie die marxistische Auffassung als „materialistische Religion” angreift, als eine Auffassung, die „das Fortschrittsprinzip vom Geist auf die Dinge überträgt” und vom Fortschritt der Materie die Errettung der Menschheit erwarte, rettet Weil den Materialismus als Methode der Erkenntnis und Handlung. Nicht ohne hinzuzufügen, dass sich bis zu diesem Punkt kein Marxist, ja nicht einmal Marx persönlich, dieser Methode bedient habe. Wie soll man das verstehen? Der Materialismus präsentiert sich mit dem Postulat, dass die Welt Materie sei und dass sich alles, was auf der Erde getan werde, aufgrund bestimmter Verhältnisse entwickle, als Erkenntnismethode dieser Verhältnisse. Die erste historische Tatsache für den Menschen ist das Überleben, also seine Fähigkeit, Mittel zu produzieren, die seinen Bedürfnissen entsprechen – seine Produktionsweise. Man kann Marx´ und Engels´ Begriff von „Produktion” und „Arbeit” kritisieren, wie es Naredo und Alier getan haben&sup9;, und dennoch lud die materialistische Methode dazu ein, die materiellen Grenzen der Produktion zu berücksichtigen. Eine Sichtweise, die paradoxerweise im Marxismus nicht beachtet wurde. Tatsächlich überging der Marxismus die ökologischen Bedenken und leugnete deren Relevanz, indem er die Wirtschaft vom Studium der physischen Prozesse entkoppelte – wie es Naredo und Alier gezeigt haben. Er ermöglichte es dem Begriff vom „Grad der Entwicklung der Produktionsmittel” nicht, eine „empirische und materielle Stellung zu erhalten”.

Die „Entwicklung der Produktivkräfte” bleibt bei Marx und Engels eine metaphysische Vorstellung. Und so beteiligten sie sich daran, die üblichen Prinzipien des Fortschritts der bürgerlichen Ideologie zu verbreiten „und trugen einerseits dazu bei, den Mythos des Wachstums zu erweitern und ermöglichten andererseits in ihrer vergeblichen Hoffnung, dass die unaufhaltsame Ausweitung der Produktionssphäre in einen Kommunismus des Überflusses münden würde, dass der Kampf für die Gleichheit in den sogenannten sozialistischen Ländern vernachlässigt wurde.”10

Bereits 45 Jahre vor Naredo und Alier setzte sich Weil mit dieser Frage auseinander und hinterfragte den unbegrenzten Charakter der technischen Entwicklung. Bei ihr finden wir grundlegende Gedanken über die Erschöpfung der Energierohstoffe, aber auch zu der Überbeanspruchung, die deren Abbau und Umwandlung möglicherweise verursachen könnte. Diesen kontraproduktiven Charakter sieht Weil in allen Sphären der industriellen Organisation und sie bekräftigt (wenn auch vorsichtig), dass die Grenze des nützlichen Fortschritts überschritten wurde.11 Was damit in jedem Fall auf dem Spiel steht, ist der Ort des Menschen in einer sozialen Utopie. In der kommunistischen Utopie soll die menschliche Arbeit dank der maschinellen Arbeit in den Händen der Arbeiterklasse verschwinden. Doch dieses Ideal ist nicht haltbar und indem man sich daran hielt, hat die Arbeiterbewegung das Wort „Revolution” seines gesamten Sinns entleert.

In diesem Stadium der Analyse schlussfolgert Weil: „Das Problem ist also klar umrissen: Ist eine Organisation der Produktion denkbar, die zwar unfähig wäre, die natürlichen Notwendigkeiten und den daraus resultierenden gesellschaftlichen Zwang abzuschaffen, es aber erlaubte, ohne die vernichtende Unterdrückung von Geist und Körper auszukommen?” Dieser Satz lässt erkennen, dass das Ideal von Freiheit für Weil weder in der totalen Abwesenheit der Unterdrückung noch in purer Autonomie besteht. Auch der Bezug zu einer paradiesischen Welt, in der die menschliche Mühe verschwunden ist, ist ihr mehr als fremd. „Die vollkommene Freiheit kann nicht begriffen werden als bloße Beseitigung jener Notwendigkeit, deren Druck wir ständig erleiden. Solange der Mensch leben wird, das heißt solange er ein winziges Fragment dieses erbarmungslosen Universums ist, wird der Druck der Notwendigkeit nie auch nur einen Augenblick nachlassen.”

Dieses Verständnis von Freiheit als menschliche Antwort auf die Notwendigkeit, wird von ihr durch eine tiefgründige Überlegung zur Geschichte der sozialen Unterdrückung bereichert. Sie konstatiert: Umso mehr Mittel der Mensch erfinde, die Natur zu dominieren und so den Druck der natürlichen Notwendigkeiten von sich fern zu halten, desto stärker wirke sich der Fortschritt der Produktion und die diesbezüglichen Anstrengungen auf die soziale Unterdrückung aus. Das menschliche Kollektiv stelle sich an die Stelle der Natur, um das Individuum zu unterwerfen; doch in Wirklichkeit sei es die gesamte Gesellschaft, die auf diese Weise in eine Machtspirale geführt werde. Daraus folgt indes keine Verteidigung der Notwendigkeit als absolutem Determinismus, eher ein Verweis darauf, dass die menschliche Antwort auf die Notwendigkeit das Gespür für ihre Grenzen wiederfinden muss.

Die gesamte moderne menschliche Organisation der Zivilisation bildet „eine Welt, in der nichts menschlichen Maßstäben entspricht”, in der alles darauf hinausläuft, die „Menschheit zu erledigen”.

Wir werden die Darstellung von Weils Überlegungen hier nicht weiter vertiefen, sondern laden die Leser ein, die Lektüre selbst in die Hand zu nehmen. Wir fügen nur mehr hinzu, dass der letzte Teil des Aufsatzes Skizze des sozialen Lebens der Gegenwart das Bild einer Gesellschaft umreißt, in der das Gewicht des Staates, der Technik sowie der komplexen Medien und der in die Gesellschaft integrierten Ideologie, eine revolutionäre Perspektive unmöglich, ja nicht einmal vorstellbar machen. Weils Klarheit inmitten solch entmutigender Umstände zeigt die Würde eines denkenden Wesens von moralischer Haltung.

Ihre über siebzig Jahre alten Feststellungen stimmen mit den unseren überein. Das Monster der Produktion, das unsere Leben beherrscht, ist so riesig und hat sich so unentbehrlich gemacht und der Sittenverfall hat sich derart verbreitet (er betrifft bereits alle Gesellschaftsschichten), dass es schwer ist, den richtigen Weg zu erkennen. Natürlich betrifft dieser Verfall nicht ausschließlich unsere Gesellschaft – doch es gilt, die neuen Formen zu ergründen, die er unter unseren aktuellen Existenzverhältnissen angenommen hat. Es eröffnet sich uns ein umfassendes Bild der Dekadenz der menschlichen Gesellschaft: Die Angst, die komplizenhafte Stille, die Liebe für das Geld und für all die Güter im Allgemeinen, die Grausamkeit der Gefühle, die moralische Indifferenz gegenüber den Privilegien, die verkümmerte Sensibilität sind an sich nichts Neues. Sie haben jedoch eine solche Normalität erreicht, dass die Gesellschaft sie zu umschließen und jeden Versuch einer Reaktion in sich zu ersticken scheint. Man kann sogar dahin kommen, anzunehmen, dass nur ein Sturm des Elends, in dem das materielle Bedürfnis diese Gesellschaft wie ein Schlag ins Gesicht trifft, Bestürzung provozieren könnte. Doch das ist nur eine Illusion, eine trostlose Fiktion. Einige gravierende Ausnahmen aufgrund objektiver, aktueller Verhältnisse (zum Beispiel das Management von nuklearen Endlagern und eine gewisse unwiderrufliche Degradierung des Lebens im Allgemeinen, die die Ausübung von Autonomie gefährlich machen) einmal ausgenommen, scheint es, als wären alle Volksherrschafts- und Wirtschaftsformen bereits Geschichte. Woran es augenfällig mangelt, sind Frauen und Männer, die eine Erneuerung dieser Strukturen in Gang bringen könnten, indem sie sich dem Weg der Wiederaneignung verpflichten. Es handelt sich also dem Wesen nach um ein moralisches Problem.

Die materielle Nacktheit (die sich durch den Mangel an Kontrolle über die Produktion und den Konsum ausdrückt) und die Übersozialisierung des modernen Menschen sind zu offenkundig, um aus ihnen keine beunruhigenden Fragen zu ziehen. In der Tat ist es angesichts des Befundes einer vollständigen Integration des Individuums in diese Gesellschaft mitsamt ihrer Werte legitim, sich zu fragen, welche politische Haltung einzunehmen ist. Ist es notwendig, die Bemühungen um eine öffentliche Debatte beizubehalten? Aber dann stellt sich die Frage nach den Mitteln, um dieses Ziel zu erreichen. Die Beispiele, die sich in den vergangenen zehn Jahren eröffnet haben (der Kampf gegen die OMG in Frankreich, die Nichtexistenz einer nuklearen Opposition), sind in diesem Sinne ausgesprochen entmutigend. Es ist wahr, wir könnten uns um Belange, die im Rahmen unserer Möglichkeiten liegen, kümmern; Gedanken anregen in mehr oder weniger gleichgesinnten Gruppen, isolierte Individuen mit einbinden. Einige werden behaupten, dass dieser Pessimismus eine durch unsere Isolierung hervorgerufene Verzerrung sei. Doch wer kann das noch glauben?

Die Unmöglichkeit der Entfremdung einen Bruch zuzufügen, führt uns zu einer anderen Überlegung zurück, nämlich zu den katastrophalen Zuständen, die sich am Horizont abzeichnen: Die Erschöpfung diverser natürlicher Ressourcen wie Erdöl, Gas, fruchtbarer Erde und die Knappheit an anderen wie Wasser; der Klimawandel; eine Zunahme der menschlichen Gesundheitsstörungen; der Verlust der Biodiversität – Zustände, die gleichzeitig ein unvorhersehbares soziales Chaos hervorrufen werden (Hungersnot, Feudalisierung der Gesellschaft ...). Welche Auswirkung wird die progressive Verstärkung dieser objektiven Verhältnisse wohl auf das Bewusstsein haben? Kann man daran glauben, dass das konkrete Ziel einer notwendigen Revolution wiederkehren wird?12 Niemand kann es vorhersehen. Sind wir angesichts eines solchen Panoramas nicht dazu gezwungen, auf die Obsoleszenz der Utopie zu schließen? Welche Arten von Utopie sind in einer Zeit wie der unseren, in der die Degradierung von Empfindsamkeit und Moral der Individuen so ausgeprägt ist, greifbar? Man könnte fast behaupten, dass der utopische Geist, basierend auf einer gewissen Vorstellung der menschlichen Gerechtigkeit (solange diese nicht dem kybernetischen Futurismus entspringt) heute eine übermenschliche Anstrengung des Individuums gegen sich selbst und die entsprechende Umgebung, sozusagen eine Art Heroismus, bedeutet. Doch die aktuelle Perspektive stellt uns vor ein weiteres Problem: Das der (zeitgerechten) Umsetzung des Denkens in die Tat. Sind beide voneinander zu trennen? Sind andere Bedürfnisse im Zusammenhang mit zum Beispiel dem bloßen Überleben nicht dringlicher? In diesem Sinne haben wir ebenso wie auch andere auf die Notwendigkeit der Bildung von Grundlagen für die Selbstversorgung13 als Versuche einer Wiederaneignung hingewiesen, auch wenn diese bescheiden sind. Doch welchen Sinn kann man diesen beimessen?

Es scheint offensichtlich, dass die Konstitution von Grundlagen der Selbstversorgung im Zusammenhang mit einer „Rückkehr” der Notwendigkeiten auf das Feld der Geschichte, eine Reflexion über die materiellen und moralischen Auswirkungen des Befundes des Scheiterns – sowohl der Überflussgesellschaft als auch des revolutionären Projekts der letzten zwei Jahrhunderte – erfordert. Solche Reflexionen würden uns zu einer Auseinandersetzung mit verschiedenen aktuellen Fragen leiten. Eine wäre beispielsweise die der Selbstbeschränkung (also die Fähigkeit einer menschlichen Gemeinschaft, den Sinn für ihre Grenzen zu bewahren, die Sparsamkeit, das kulturelle Empfinden des Todes ...). Eine andere wäre die der Würde und der Grenzen der historischen Formen des menschlichen Zusammenlebens.

Die Utopie ist obsolet geworden, aber sie ist die einzige Tugend, die uns bleibt.



1 Und es wäre ein Fehler, wenn wir besagte Analyse den ökologischen Organisationen überlassen würden.

2 Außerdem wird das Projekt der Emanzipation häufig an eine vage und einseitige Definition von Glück gekoppelt, welche auf dem materiellen Überfluss fußt, der durch den unbegrenzten Fortschritt der Produktivkräfte begründet wird.

3 Wider die Roboter von Georges Bernanos 1949. (frz. Veröffentlichung 1945) (Anm. d. Ü.)

4 Araúz de Robles veröffentlichte sein Werk Los desiertos de la cultura im Jahre 1979 und blieb damit völlig unbemerkt. Wir haben bereits in unserer 3. Ausgabe der Boletins auf dieses Werk hingewiesen.

5 Siehe zum Beispiel unser Schreiben an Quim (Etcetera Nr. 38, 2014) oder unser „Selbstinterview”, erschienen in Ekintza Zuzena Nr. 33, 2004.

6 Der iberische Anarchismus wurde mit seinem stets auf die Bauernschaft gerichteten Blick immer als ein agrar-orientierter eingestuft. Das veränderte sich in den Jahren vor dem Bürgerkrieg in Zusammenhang mit anderen, stärker industriell beeinflussten Sichtweisen. Laut einiger Wissenschaftler hat es auf dem Kongress der CNT (Confederación Nacional del Trabajo) im Mai 1936, in Zaragoza, eine Vorherrschaft des agrar-kommunistischen Ansatzes gegeben. Doch es scheint uns, als hätte das nicht unbedingt einen Sieg der anti-industriellen Sichtweisen der freiheitlichen Bewegung bedeutet.

7 Dieses Pamphlet erschien in Ekintza Zuzena Nr. 35, 2006 (Das Pamphlet setzt sich mit den ökologischen und politisch-sozialen Hintergründen von großen Waldbränden in Mittelspanien auseinander. Anm. d. Ü.)

8 Reflektionen über die Ursachen der Freiheit und sozialen Unterdrückung in Unterdrückung und Freiheit. Politische Schriften 1975. (frz.1955) (Anm. d. Ü.)

9 Cuadernos del Ruedi Ibérico, Manuel Naredo/ Juan Martínez Alier 63/66/ 1979. 10 ebd.

11 Weil antizipiert die Analysen von Ivan Illich, siehe Kapitel 3 seines Buches Die Nemesis der Medizin. Von den Grenzen des Gesundheitswesens, 1975. (ursprl. Die Enteignung der Gesundheit Anm. d. Ü.)

12 Jacques Ellul betrachtete das folgendermaßen: „In dem Maße, wie unsere Gesellschaft komplexer wird, wird auch die notwendige Revolution zunehmend komplexer und ihr Ziel abstrakter. Sie wendet sich nicht ausschließlich dem Fühlbaren, dem unmittelbar Sichtbaren hin, dem was Wut oder Empörung hervorruft. Es ist zum einen ein Problem der Verzweiflung und zum anderen eines der kalten Berechnung. Aber es handelt sich um eine diffuse Verzweiflung, deren Ursprung unergründet bleibt, und die, wenn sich dieser eröffnet, keinerlei Verbindung mit der Berechnung zu haben scheint.” Von der Revolution zur Revolte. 1974. (frz. 1972)

13 Wörtlich: „bases de retaguardia&rdquo – „Stellungen der Nachhut&rdquo. (Anm. d. Ü.)